Lorettas letzter Vorhang
die Elbe. Rosina kannte sich nicht aus mit Schiffen, schon gar nicht, wenn sie, wie die kyrillischen Buchstaben am Bug des Großseglers verrieten, aus Rußland, wahrscheinlich aus St. Petersburg, kamen. Noch viele Meilen weiter im Osten, in der sibirischen Tundra, hatten die Wildgänse den Sommer verbracht, die nun unterwegs zu ihren Winterquartieren in den wärmeren westlichen Marschen über den Fluß davonzogen.
Rosina sah ihnen nach. Es mußte wunderbar sein, mit der Kraft des eigenen Flügelschlags und auf dem Rücken des Windes so schnell einem sicheren Ziel näher und näher zu kommen. Sie hatte seit einigen Tagen ständig das Gefühl, im Kreis zu laufen, auf der Stelle zu treten, jedenfalls nicht vorwärts zu kommen. Sie war nicht gewohnt, aufirgend etwas zu warten, ohne selbst etwas tun zu können, und fühlte eine große Unruhe, die sie mal wütend, mal verzagt machte.
Aber was konnte sie denn noch tun? Sie hätte gerne mit Lukas gesprochen, aber Wagner hatte ihr nicht erlaubt, ihn in der Fronerei zu besuchen. Das sei sinnlos, hatte er gesagt. Wahrscheinlich zahlte er ihr das Treffen in St. Petri heim. Aber er hatte ja recht, was sollte sie von Lukas nun noch erfahren? Nur weil sie da so ein Gefühl hatte, daß er doch noch etwas verbarg, das sie unbedingt wissen mußte?
Aber vielleicht glaubte sie auch nur so dringlich mit ihm sprechen zu müssen, weil es für sie sonst nichts zu tun gab. Lukas Blank, hatte Wagner gesagt, dürfe überhaupt keinen Besuch haben, obwohl solcherlei Vergünstigungen für Gefangene der besseren Stände sonst selbstverständlich seien. Aber Blank solle nun ein wenig in der kalten, stinkenden Zelle schmoren, immer gewärtig, daß die Marterkammer für die peinliche Befragung gleich nebenan war. Wenn die Wahrheit, irgendeine Wahrheit, auch nur noch selten und mit Genehmigung des Rates durch Daumenschrauben, Streckbett und glühende Zangen herausgepreßt wurde, sei allein das Wissen um die Möglichkeit, so hatte Wagner gesagt, doch oft das reinste Wahrheitswasser.
Rosina hatte es heute in der Stadt nicht mehr ausgehalten und beschlossen, Matti und Lies auf dem Hamburger Berg zu besuchen. Der Hamburger Berg war gar keiner, sondern eine weite, freie Wiesenfläche. Jakobsen hatte ihr erklärt, daß dort einst tatsächlich veritable Hügel gewesen seien, aber als die Stadt immer größer wurde, schon vor langer Zeit, habe man den Sand zum Bau der Häuser gebraucht und abgetragen. So waren von dem Berg nur der Name und das Hochufer am Fluß geblieben.
Sie war durch das Millerntor hinausgegangen, und derBlick über das freie Feld hinüber nach Altona war wie ein Aufatmen. Auf dem breiten Weg durch das Grasland zwischen den Wällen und dem dänischen Altona war wie meistens viel los. Reiter waren unterwegs, Frauen mit Kiepen und Körben, Männer mit hochbeladenen, von Ochsen gezogenen Fuhrwerken oder mit kleinen Handkarren. Der Mann auf dem Bock einer vornehmen Kutsche mit einem goldenen Wappen am Schlag forderte mit lauten herrischen Rufen Platz. Auch ein Spielmann begegnete ihr und ein Bettler ohne Beine, der sich auf einem mit groben Rädern versehenen Brett nur mit der Kraft seiner Arme vorwärts bewegte. Sie drehte sich um und sah ihm nach, einmal gelang es ihm nur mit Mühe, den Hufen eines Pferdes auszuweichen, und Rosina war sicher, daß es dem Reiter Vergnügen bereitet hatte, ihn so tödlich zu erschrecken. Der boshafte Fremde war ihr aus Altona entgegengekommen, ein vierschrötiger Mann im dunkelgrauen Rock aus dickem, gutem Tuch. Sein Gesicht im Schatten eines schwarzen breitkrempigen Hutes hatte sie nicht erkennen können. Dann verschwand er hinter einem Fuhrwerk, beladen mit Seilen und Tauen von den Reepschlägerbahnen, die sich unter den nun schon fast kahlen Baumreihen am Ende des freien Feldes nahe dem Pesthof entlangzogen, und sie war weitergegangen, froh, zwei gesunde Beine zu haben, keinen Hunger und den ganzen nächsten Winter ein Dach über dem Kopf.
Rosina zog ihr Tuch fester um die Schultern, verabschiedete sich von dem weiten Blick über die Elbniederungen und lief auf dem Pfad vom Rande des Geesthanges weiter zu Mattis Haus. Sie lief durch den kleinen Vorgarten, um das Rondell und zu der Tür zwischen den beiden Linden. Auf ihr Klopfen öffnete niemand. Auch der hintere Garten war verlassen. Nur zwei Spatzen badetenihr aufgeplustertes Gefieder im weichen Sand einer kleinen Mulde neben dem schmalen Bach, der durch den hinteren Teil des Gartens floß.
Weitere Kostenlose Bücher