Lorettas letzter Vorhang
geritten.
Sie eilte weiter, das Millerntor war nun nur noch wenige Schritte entfernt. Hoffentlich waren die Wachen zu beschäftigt, um sie lange zu kontrollieren. Die Männer liebten es, die Röcke der jungen Frauen besonders gründlich nach Schmuggelware zu durchsuchen. Aber sie hatte Glück, der Wächter sah, daß sie nicht einmal einen Beutel bei sich trug, und winkte sie einfach durchs Tor.
«Rosina! Endlich bist du da.» Die Stimme klang weniger erleichtert als vorwurfsvoll. Charlotte sprang von einem großen Stein auf dem Platz vor dem Tor, gleich neben einer Bude, aus der es wunderbar nach Zimtkringelnund Aniskuchen duftete, und lief auf Rosina zu. «Semiramis», flüsterte sie gleich aufgeregt, «du darfst keinem verraten, daß es Semiramis war. Wir dürfen ja nicht dort oben sein, aber dir kann ich es sagen, weil du uns nicht verpetzt. Semiramis hat etwas gefunden. Auf der Oberbühne …»
«Charlotte, was machst du hier? Um Himmels willen, du hast ja eiskalte Hände.» Rosina nahm ihr Tuch von den Schultern und wickelte das im kühlen Wind bibbernde Kind rasch hinein. «So, jetzt setz dich wieder auf den Stein und erzähle mir, was Semiramis gefunden hat, aber beeil dich, ich habe wenig Zeit.»
Charlotte kuschelte sich in das warme Tuch und blickte ein bißchen beleidigt auf ihre dünnen Finger. «Es ist aber wichtig. Ich glaube, Semiramis hat etwas gefunden, das du suchst. Semiramis hat nämlich Lorettas Beutel gefunden, und glaub mir, er ist ziemlich schwer. Wir haben nicht hineingesehen, weil wir gut erzogen sind, und Mama sagt, man stöbert nicht in fremder Leute Sachen. Aber ich weiß, es ist ein Buch darin und Schminke und Kämme und ein Fläschchen echtes Kölner Wasser. Aber wir haben nicht …»
«Ist ja schon gut, Charlotte. Ich glaub’s dir, und Semiramis hat das sehr gut gemacht, ich meine, wenn sie schon Verbotenes tut, findet sie wenigstens etwas Vermißtes. Aber jetzt sag mir schnell: Wo sind die Sachen? Wo hast du sie hingetan?»
«Semiramis wußte ein gutes Versteck, und da …»
«Oh, Charlotte, nicht wieder Semiramis! Zeig es mir einfach. Dann schwöre ich auch, dich wieder nicht zu verraten. Aber endgültig zum letzten Mal. So komm doch, schnell!»
Hastig rutschte das Kind von dem Stein und rannte Rosina nach, deren wehende Röcke schon im Gedränge der Leute im Durchgang zum Zeughausmarkt verschwanden.Wagner saß in seinem schmalen Amtszimmer im Rathaus und brütete über einigen neuen Paragraphen der Gassenordnung, als er vor dem Fenster seinen Namen rufen hörte. Unten auf dem Platz stand ein Kind, ein Mädchen, und sah winkend zu ihm hinauf. Er erkannte sie gleich, immerhin verdankte Wagner ihren scharfen Augen, daß Lukas Blank nun in der Fronerei saß. Die Wachen hatten sie nicht hereinlassen wollen, und so hatte sie sich auf den Platz gestellt und nach ihm gerufen. Nun durfte sie endlich hinein, und der Gehilfe des Weddemeisters verbeugte sich sogar vor ihr. Das gefiel Charlotte sehr gut, und die Handbewegung, mit der sie ihm dafür dankte, war wahrhaft königlich. Sie hatte sie lange an Madame Hensel studiert.
Ihre Nachricht, er möge Rosina sofort im
Bremer Schlüssel
treffen, es gehe um Lorettas Beutel, kam Wagner äußerst gelegen. Die Gassenordnung war erst zwei Jahre alt, von allergrößter Wichtigkeit für Ruhe, Ordnung und Sauberkeit in der Stadt, und bedurfte schon der Ergänzung. Aber daß etwas wichtig war, bedeutete noch lange nicht, daß es auch interessant war. Und so ließ Wagner alles stehen und liegen, schickte die heftig protestierende Charlotte mit aller amtlichen Autorität, die er aufzubringen in der Lage war, zurück ins Theater oder wo immer sie hingehörte, und eilte quer durch die Stadt zu der Schenke in der Neustädter Fuhlentwiete. Wagner eilte nicht gern, dazu war er zu beleibt, und als er schwitzend über die Ellerntorbrücke ging, bereits die dritte auf seinem Weg, und nun schon mit sehr viel kürzeren Schritten rechts in die Fuhlentwiete einbog, fand er doch, Rosina hätte diesmal ruhig weniger diskret sein und sich selbst ins Rathaus bemühen können.
In der Schenke war es still, ein paar Strahlen der Nachmittagssonnefielen durch die vorderen Fenster auf leere Tische. Nicht einmal Jakobsen, der Wirt, war da. Wagner zog sein großes blaues Tuch aus der Rocktasche, wischte sich Stirn und Nacken trocken. Womöglich, dachte er, hatte sich das Kind nur einen Scherz mit ihm erlaubt. Das wäre ein übler Scherz, denn immerhin war er
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