Lorettas letzter Vorhang
Euren Namen nicht mehr. Ihr seid eine Freundin von Mademoiselle Grelot, die wir am Sonnabend hier zur letzten Ruhe – Teufel auch, es ist mir ein Rätsel.»
Das war eine sehr seltsame Rede, nicht nur, weil es für einen lutherischen Pastor wirklich nicht anging, den Teufel zu berufen, und schon gar nicht auf diese leichtfertige Weise. Rosina folgte seinem Blick, doch das, was nun auch sie sah, erschien ihr für einen Friedhof als etwas ganz Normales. Vor dem Pastor lag ein Holzkreuz im Sand, ein wenig klobig, aber doch akkurat gearbeitet, aus gutem rötlichem Buchenholz und zum Schutz gegen Wind und Wetter sorgfältig eingeölt.
«Ein Rätsel?» fragte Rosina. «Es sieht wie ein einfaches, kleines Grabkreuz aus.»
Der Pastor nickte. «Das stimmt schon, aber es ist trotzdem ein Rätsel. Irgendein Kerl hat es vorhin einfach hier in den Hof gelegt. Dann ist er wieder auf sein Pferd gestiegen und hat sich davongemacht. Ich sah ihn nur durch das Fenster, natürlich hätte ich gleich hinauslaufen sollen und mit ihm sprechen, er hat nämlich noch den Hut abgenommen und ein Gebet gesprochen. Jedenfalls sah es so aus, wer weiß, was er tatsächlich vor sich hin gemurmelt hat. Aber ich grübelte gerade über meiner Predigt für heute abend und dachte, er werde schon selbst an die Tür klopfen. Doch dann war er weg und hat das hier», er zeigte mit spitzem Zeigefinger auf das Kreuz, «dagelassen. Nun weiß ich nicht, für welches Grab es ist. Ich habe in den letzten beiden Wochen fünf Menschen beerdigt. Also muß ich herumlaufen und die Leute fragen, zu welchem Grab das Kreuz gehört. Ich habe es gerade umgedreht, weil ich dachte, vielleicht steht auf der Rückseite, von wem es ist. Das tun die Leute manchmal. Als letzten Liebesgruß sozusagen. Aber nichts. Nur vorn der Name, aber der sagt mir auch nichts.» Er bückte sich und drehte das Kreuz um. «Ich habe keine Ahnung, wer das sein könnte, und ich bin zwar tatsächlich manchmal etwas vergeßlich mit den Namen, aber ich weiß doch sehr genau, wen ich beerdigt habe. Ist Euch nicht wohl, Mademoiselle? Wollt Ihr ein Glas Wasser?»
Rosina schüttelte den Kopf. Sie brauchte kein Wasser, auch wenn ihr für einen Moment ein wenig schwindelig gewesen war. Sie brauchte eine Erklärung.
«Auch der Spruch ist ungewöhnlich für diesen Anlaß, findet Ihr nicht?» fuhr der Pastor eifrig fort. «Überhaupt ein Spruch! Aber wenn da wenigstens stünde: ‹Mein Herzwill mir im Leibe brechen›, Jeremia dreiundzwanzig, Vers neun, das wäre ein Beweis echter Trauer. Aber hier steht: ‹Ich muß unstet und flüchtig sein auf Erden›, Genesis vier, Vers vierzehn.»
Und dann stand da noch der Name.
«Lore Gürlich», las Rosina vor, und ihre Stimme begann zu vibrieren, «gestorben am 7. Oktober im Jahre des Herrn 1767. Ihr müßt nicht herumlaufen und die Leute fragen. Ich weiß, auf welches Grab das Kreuz gehört. Aber sagt mir, wie hat der Mann ausgesehen? Was hatte er an? Welche Farbe hatte sein Rock, sein Pferd? So sprecht doch, Ihr müßt Euch an irgend etwas erinnern!»
«Wie er aussah? Wie Männer eben so aussehen.» Der Pastor blickte erstaunt auf die Hände, die fest seinen Arm umklammerten. «Ich habe kein Auge dafür, Mademoiselle, ich weiß es wirklich nicht genauer. Doch, wartet.» Er schloß die Augen und legte den Kopf leicht in den Nacken. «Er trug einen Hut. Einen Dreispitz? Nein, keinen Dreispitz. Ach ja, er setzte ihn ja wieder auf, jetzt sehe ich es vor mir. Es war ein Hut mit breitem Rand, schwarz. Und sein Rock war auch schwarz, jedenfalls ganz dunkel. Sein Pferd? Das weiß ich wirklich nicht, er hatte es an die junge Linde dort gebunden, ich sah kaum etwas davon. Es war wohl kein besonders edles Tier, eben eines, auf dem man alle Tage reitet. Obwohl, als er davonritt, schien mir, daß die beiden vorderen Läufe des Pferdes aussahen, als trügen sie weiße Wadenstrümpfe. Das ist in der Tat recht ungewöhnlich. Aber nun sagt mir, wer das ist. Lore Gürlich, ich weiß wirklich nicht …»
«Das Kreuz ist für Loretta, Pastor. Sie hieß nur als Künstlerin Grelot, getauft war sie auf diesen Namen.» Sie sah hinunter auf das Kreuz im Sand, in das jemand mit einem glühenden Eisenstift den Namen Lore Gürlich, dasDatum ihres Todes und den Bibelspruch eingebrannt hatte. «Aber», endlich ließ sie seinen Arm los, «das wußte niemand außer mir. Das hat sie jedenfalls gesagt, und ich mußte ihr schwören, es niemandem zu verraten. Sie mochte diesen Namen
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