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Lorettas letzter Vorhang

Lorettas letzter Vorhang

Titel: Lorettas letzter Vorhang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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wenig Platz zum Atmen würde sie den Abend kaum überstehen. Kein Wunder, wenn die Damen ständig ihre Riechfläschchen bei sich trugen. Obwohl – ihr Blick fiel auf Madame van Witten, die gerade den vor Schreck erbleichten Niklas aus ihrer molligen Umarmung freigab, mit strahlendem Lächeln auf Augusta zusegelte und Claes’ Tante hinter der Fülle ihres ausladenden Körpers ganz und gar verschwinden ließ   –, obwohl gewiß nicht alle in ein enges Korsett paßten oder sich bereitwillig der, wie Anne fand, völlig überholten und äußerst lästigen Mode unterwarfen. Und Agnes Matthew, die am Arm ihres Gatten Thomas und ausnahmsweise ohne Mops Carlino den Salon verließ, um den neu ausgestatteten Tanzsaal der Herrmanns’ zu inspizieren, mußte sich wahrscheinlich gar nicht schnüren. Anne hatte sich selbst immer für zu dünngehalten, doch Betty war neuerdings anderer Ansicht. Die reichhaltigen Mahlzeiten, die man in den großen Häusern dieser Stadt ständig zu verspeisen hatte, blieben eben nicht ohne Folgen. Anne seufzte heimlich. Auch heute würde mehr als üppig getafelt werden. Noch ein Grund, das Korsett beizeiten zu lockern.
    Die meisten Gäste waren nun da. Sie waren die Treppe aus der Diele heraufgekommen, hatten die Gastgeber an der weit geöffneten Salontür begrüßt und sich eifrig schwatzend in die von zahllosen Kerzen festlich erleuchteten Räume verteilt. Gewöhnlich nutzten die Herrmanns nur den Salon und den kleineren Speisesaal. Einzig für größere Festlichkeiten wie den heutigen Musikabend wurden die Flügeltüren zu den hinteren Räumen geöffnet.
    Bis vor wenigen Jahren wurden dort noch Waren gelagert, die das Haus Herrmanns in halb Europa kaufte und wieder verkaufte. Diese Lager waren schon zu klein geworden, als Claes noch ein junger Mann gewesen war. Nun lagerten die Kattun- und Leinenballen, die Kaffee- und Zuckerkisten, die aus schwedischem Erz getriebenen Kupferwaren, das böhmische Glas, die Weine und Südfrüchte, westindischen Hölzer, Tran, Tonnen mit gesalzenem Fisch und was sonst alles zu seinem Handel gehörte, in zwei großen Speicherhäusern auf dem Brook. Irgendwann, und daran dachte Claes nur mit Wehmut, würde er auch das Kontor aus seinem Wohnhaus in die Speicher verlegen müssen. Erst im Frühjahr hatte er die letzten Waren aus seinem Haus verbannt, und aus den ehemaligen Lagerräumen waren ein Tanzsaal, ein Spielzimmer, ein kleinerer Salon für die Raucher und einer für delikate oder auch nur ruhige Gespräche geworden.
    «Meine liebe Anne.» Elise Reimarus zwitscherte schon auf der Treppe vor Vergnügen. «Was für eine wunderbareIdee, dieser Musikabend. Ein wenig plötzlich, aber wir sind wirklich begeistert. Nicht wahr, Johann?»
    Dr.   Johann Reimarus stand gelassen und milde lächelnd hinter seiner quirligen Schwester. «Guten Abend, Madame Herrmanns.» Sanft schob er Elise ein wenig zur Seite und beugte sich über Annes Hand. «Es ist uns wirklich eine Freude, Monsieur.» Er nahm Claes’ freundlich ausgestreckte Hand und neigte den Kopf. «Wir müssen unseren Vater entschuldigen, er ist nicht ganz wohl. Um ehrlich zu sein, bei solchen Anlässen ist er häufig nicht ganz wohl. Aber das wißt Ihr ja.»
    «Dann wollen wir hoffen», antwortete Claes lächelnd, «daß er sich heute abend über seinen Büchern gut erholt.»
    Der alte Reimarus liebte es nicht, seine kostbare Zeit in feinem Rock und frisch gepuderter Perücke im Salon zu verschwatzen. Der Theologe und Professor für orientalische Sprachen am Akademischen Gymnasium war wohl ein geselliger Mensch. Aber er zog es vor, im bequemen Schlafrock, so wie es seit einigen Jahren bei Künstlern und Gelehrten üblich war, Gäste in seiner Wohnung zu empfangen, die ihn ganz gewiß nicht langweilen würden. Die gelehrten Dispute um den Tisch in seinem kleinen Salon in der Neustädter Fuhlentwiete galten als heiter, ungemein anregend und oft hart am Rande dessen, was die Geistlichkeit wieder zu einer Donnerrede von der Kanzel veranlaßt hätte. Nichts hielt den Professor davon ab, mitten im Gespräch aufzustehen und in seiner ungewöhnlich wohlsortierten Bibliothek gleich neben dem Salon die Antworten auf etwaige offene Fragen zu suchen. Er war ein scharfer, eigenwilliger Denker und genoß den Ruf der Unbestechlichkeit. Tochter und Sohn standen ihm darin nicht nach.
    «Wir haben uns erlaubt, Madame», fuhr Reimarus fort,«noch einen Gast mitzubringen. Wir hoffen, daß Ihr uns das nicht verübelt.» Reimarus kannte

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