Lorettas letzter Vorhang
hörte, wie David seine Violine neu stimmte, hörte das Summen der in der willkommenen kleinen Pause plaudernden Stimmen, das Hüsteln undRäuspern und fragte sich zum hundertstenmal, warum sie diesen Auftritt nicht beharrlicher verweigert hatte. Viele der Gäste hatten es vorgezogen, den Abend im Spielzimmer oder Rauchsalon fortzusetzen, aber Rosina hatte das Gefühl, daß alle Augen der Stadt hier versammelt waren und sie erbarmungslos durchbohrten. Aber da waren auch Anne, Claes und seine Tante Augusta, Baumeister Sonnin, Lessing mit Mademoiselle Reimarus, der Seidenhändler König und dessen Frau, Madame van Witten saß zwischen Mrs. Bellham auf der einen und Agnes und Thomas Matthew auf der anderen Seite – lauter freundlich-erwartungsvolle Gesichter. War es nicht doch leichter, nur vor Fremden zu singen, deren Applaus man erhoffte, die man aber nicht als Freunde enttäuschen konnte?
Sogar Mrs. Bellham, von der niemand Freude an einer neuen Oper aus Wien erwartete, lächelte milde. Sie war heute nicht in graue, sondern in zartgelbe, mit weißen Blüten und Blättern bestickte Seide gekleidet, die das tiefe Dunkel ihres Haares wie Ebenholz erscheinen ließ. Doch bevor Rosina Details von Mrs. Bellhams Frisur zum Anlaß nehmen konnte, um sich von dem erdrückenden Gefühl in ihrer Brust abzulenken, geschah etwas Verblüffendes. Mr. Bellham war leise hereingekommen und setzte sich neben sie. Er war ein wenig zu aufgeputzt und sein Lächeln wie stets eine Spur zu breit, um von echter Wärme zu sein. Aber über das Gesicht seiner Frau glitt ein Strahlen, sie sah ihn mit schmelzenden Augen an, neigte sich seinem Flüstern zu wie eine Braut, und ihr Gesicht, ihr ganzer Körper schien plötzlich etwas Leichtes und Stolzes zu bekommen. Mrs. Bellham, das war deutlich zu erkennen, verehrte und liebte ihren Gatten als einen königlichen Ritter ohne Furcht und Tadel.
Rosina atmete tief. In diesem Moment hätte sie sogar mit Magdalena Bellham getauscht. Als Komödiantin auf der Bühne war sie niemals so nervös, doch hier schien ihr alles anders. Konnte nicht jeder sehen, daß das vornehme Kleid aus Annes Truhe war und mit Hast und viel zu groben Stichen für sie gekürzt? Würde nicht jeder ihre Stimme mit der der großen Sängerinnen vergleichen? Sie wußte, daß ihr Sopran leicht und klar war, aber sie wußte auch, daß er weder richtig ausgebildet noch stark genug war, eine Oper durchzustehen. Aber für eine Arie, für diese eine wunderbare Arie der Euridice, die schlichteste und zugleich schönste, die sie je gesungen hatte, würde er genug sein.
Dennoch, es war ja kaum Zeit zum Proben gewesen, und die Ratsmusiker, die man für den heutigen Abend engagiert hatte, waren nur mürrisch und ohne jedes Zeichen von musikalischem Vergnügen oder Eifer bereit gewesen, so kurzfristig eine neue Arie einzuüben. Aber Davids Violine würde sie führen. Eine lustvoll gespielte Violine, hatte er gesagt, sei ansteckend wie ein schweres Fieber. Und wenn sie die ungewohnten italienischen Worte verwechselte? Wenn sie … Doch da begegneten ihre Augen Davids Blick, einem ruhigen, warmen Blick voller Vertrauen und Gewißheit ihres Erfolges, und die Angst verging. Sie sah die Violine in seinen Händen, das warme, im Glanz der Kerzen schimmernde Holz an seiner Wange. Nun schloß er für einen Moment die Augen, als lausche er den Tönen voraus, legte den Bogen an, und diesmal ließ die Leidenschaft der ersten Töne der Streicher das Geplauder gleich verstummen. Und Rosina sang, sicher und klar vom ersten Ton …
Che fiero momento, che barbara sorte passar della morte a tanto dolor!
… und mit den italienischen Worten, mit der sie tief berührenden Musik vergaß sie die höflich abwartenden Gesichter, das geliehene Kleid und die Angst, vor allem die Angst.
Avvezzo al contento d’un placido oblio, fraqueste tempeste si perde il mio cor. Vacillo, tremo …
Dann war es vorbei, und der Applaus war so groß, daß selbst einige der Spieler aus dem hinteren Salon die Karten auf den Tisch legten und neugierig in den Saal eilten, um zu erfahren, was da mit solcher Begeisterung belohnt wurde. Die Tränen, die einige auf den Wangen der Sängerin zu sehen glaubten, wurden als Zeichen der großen Empfindsamkeit der wahren Künstlerin für ihre Musik wohlgefällig zur Kenntnis genommen. Bocholt allerdings fand einen solchen Ausdruck von Gefühl doch ein wenig bedrängend, aber es gab niemanden, der ihm zustimmte.
Nur Anne
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