Lorettas letzter Vorhang
bekanntgeben, aber im Spielzimmer und im Rauchsalon werde weiter serviert, weil Musik, habe Monsieur Claes gesagt, ja nicht jedermanns Sache sei.
Es fanden sich trotzdem etwa die Hälfte der Herren und alle Damen im zum Konzertsaal umgeräumten Tanzsaal ein, woran ganz ohne Zweifel der erste Violinist großen Anteil hatte. Er war im Laufe des Abends schon allgemein als ungewöhnlich talentiert und – hinter vorgehaltenem Fächer – als ebenso ansehnlich gepriesen worden. Madame Schuback, die zu einer der reichsten und mächtigsten Kaufmannsfamilien der Stadt gehörte und mit dem Adel eigentlich wenig im Sinn hatte, flüsterte Madame Voght gar zu, sein Profil habe durchaus etwas Aristokratisches.
Und dann erklangen die ersten kraftvollen Töne von Telemanns Alster-Ouvertüre, ein einziges Fest für die Streicher, und schon beim zweiten der acht Tanzsätze war alles Geplauder verstummt. Später würde man sich einig sein, daß diese heitere Suite doch das vergnüglichste unter den zahlreichen Glanzstücken des alten Meisters sei, was für ein Jammer, daß seine Zeit auf Erden nun vorbei sei, es werde wohl keinen Musikus geben, der ihn ersetzenkönne. Das hätte Telemann zu kaum mehr als einem spöttischen Blinzeln veranlaßt. Wenn er als städtischer Musikdirektor und Kantor auch viele Freunde und Verehrer gefunden hatte, gab es zu seinen Lebzeiten doch immer wieder bitteren Streit um seine Vorstellung von der Musik, und er hatte niemals gehört, daß er unersetzlich sei.
Rosina saß kerzengerade auf einem Stuhl nahe der Tür. Das Batisttuch in ihren Händen war schon jetzt nur noch ein feuchtes Knäuel. Die Suite würde nur eine knappe halbe Stunde dauern, dann gab es keinen Ausweg mehr, dann mußte sie dort vorne stehen und singen.
Beim siebten Tanzsatz mit dem bildreichen Titel «Die konzertierenden Frösche und Krähen» glitt Lessing nahezu geräuschlos auf den Stuhl neben ihr.
«Ihr habt heute ungewöhnlich viele Rollen», flüsterte er. «Ich wüßte zu gern, warum.»
«Das ist mein Geheimnis», flüsterte Rosina zurück. «Wartet einige Tage, und ich erzähle es Euch.»
Lessing grinste. «Wenn Ihr so gut singt, wie Herrmanns’ Köchin kocht und wie unser Mr. Rhye spielt, wird der Abend zum Ereignis.»
«Nicht wahr? Er spielt wunderbar. Und ich glaube, sein Instrument ist auch sehr gut gewählt.»
«Sehr gut gewählt? Ihr macht Scherze. Es ist ein Juwel. Er hat es mir kürzlich gezeigt. Diese Violine ist in einer der ältesten Werkstätten in Cremona gebaut worden, es gibt kaum eine bessere. Jeder Violinist würde seinen rechten Arm für ein Instrument aus dieser Werkstatt geben, wenn er ihn nicht so dringend zum Musizieren bräuchte. Ich frage mich wirklich, warum er mit seinem meisterlichen Spiel und diesem Instrument zu unserem ärmlichen Theater gehört, anstatt am Hof von Berlin oder London Triumphezu feiern. Verzeiht uns, Madame, wir werden nun schweigen.»
Der letzte Satz war nicht mehr an Rosina gerichtet, sondern an eine Dame in der vorderen Reihe, die sich mit äußerst ungehaltenem Blick nach den beiden flüsternden Störenfrieden hinter ihr umgesehen hatte. Sie trug ein Kleid aus prächtig gemustertem und mit Goldmalerei geschmücktem Zitz-Kattun nach ostindischer Manier, dem glänzendsten und teuersten, der zu haben war. Auch ihre Frisur war beachtlich. Ihr hoch aufgetürmtes und weiß gepudertes Haar war mit perlenbesetzten Schleifen und einem apfelgroßen Segelschiff garniert, das beim vergeblichen Versuch, das Geflüster in ihrem Rücken genauer zu verstehen, erheblich Schlagseite bekommen hatte.
Die Schlußtöne des neunten und letzten Tanzsatzes, «Der Schäfer und Nymphen eilfertiger Abzug», verklangen, und nach gebührendem Applaus kündete Anne die Überraschung des Abends an, eine Arie aus einer neuen Oper, «Orfeo ed Euridice» von dem berühmten Komponisten zu Wien, Monsieur Gluck, die in dieser Stadt noch nie zu Gehör gebracht worden sei. Das hatte ein allgemeines Ah und Oh zur Folge, aber auch einige äußerst sorgenvolle Gesichter und sich auf der Suche nach einem Weg, den Saal diskret, aber eilig zu verlassen, drehende Hälse. Man solle sich jedoch nicht sorgen, fügte Anne noch hinzu, anders als im so erbarmungslosen griechischen Mythos siege in dieser Oper die Liebe, und das Paar dürfe am Ende doch und im Glück gemeinsam weiterleben.
Rosinas Hals war plötzlich staubtrocken. Kein Ton würde herauskommen. Aber dann stand sie auf dem Podest neben dem Spinett,
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