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Lorettas letzter Vorhang

Lorettas letzter Vorhang

Titel: Lorettas letzter Vorhang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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verstand, daß die Worte der Arie Rosina an Lorettas Tod erinnert hatten. Die Worte Euridices, die von ihrem geliebten Orfeo aus dem Totenreich in die Oberwelt zurückgeführt wird, ohne daß er ihr einen Blick schenkt, die wankend und zitternd sicher ist, seine Liebe verloren zu haben, und ihr grausames Schicksal beklagt, daß sich ihr Herz nach der Ruhe des sanften Vergessens im stillen Tod nun in den wilden Gewittern dieses Schmerzes verlieren muß. So war es auch eine Totenklage für Loretta, der Wunsch, auch sie möge im Tod die Ruhe des sanften Vergessens finden. Aber außer Monsieur Weise, der einige Zeit ein Kontor in Livorno geleitet hatte und das Italienische nahezu perfekt beherrschte, hatte kaum jemand den Sinn der schwermütigen italienischen Worte verstanden. Alle anderen hielten es für eine zwar etwas dunkle, aber doch sehr ergreifende Arie an die eheliche Liebe, diefür einen so ehrbaren Musikabend ganz ausgezeichnet paßte.
     
    Auch an diesem Abend war Rosina nicht bereit, im Neuen Wandrahm zu übernachten. Es war eine anstrengende Nacht gewesen, und sie sehnte sich nach ihrer Kammer im Krögerschen Haus. Nach dieser Kammer ganz ohne Stuck, Meißner Porzellan und Seidenbezügen. Es war nun schon sieben Jahre her, daß sie, fast ein Kind noch, in einer Neumondnacht in die Kleider des jüngsten Dieners geschlüpft und aus einem Fenster des großen Hauses gestiegen war, das ihrem Vater gehörte. Es war dem Herrmannsschen ähnlich, und auch wenn es dort schon lange vor ihrer Flucht keine Heiterkeit mehr gegeben hatte, brachte das Fest im Haus am Neuen Wandrahm Bilder aus der Vergangenheit, die sie erschöpften und verwirrten. Sie wollte zurück in die schmale Kammer, die sie zuletzt mit Loretta geteilt hatte, mit einer jungen Frau, die ihr Vater niemals auch nur angesehen hätte. Sie wollte dorthin zurück, wo sie wieder sicher sein konnte, wer sie jetzt war und wer sie bleiben würde. Eine Komödiantin. Nur dort konnte sie heute abend diese Gewißheit und damit ihre Ruhe wiederfinden.
    Claes hatte zunächst darauf bestanden, daß Christian sie zurückbegleite, aber auch diesmal hatte Rosina sich durchgesetzt. Das Fest, hatte sie ihn erinnert, werde nun erst lebhaft, und Christian werde als Tänzer dringend gebraucht. Damit hatte sie recht, die Zahl der jungen Damen, die einen Tanzpartner erwarteten, war deutlich größer als die der jungen Herren. Und Brooks, hatte sie erklärt, sei ihr vertraut und der denkbar zuverlässigste Begleiter.
    So hatten Anne und Claes sie zum offenen Zweispänner, mit dem der Kutscher kurz darauf vor dem Portal wartete, hinausbegleitet, hatten sie in warme Decken gehüllt, immer wieder ihren Gesang gelobt und beteuert, es sei eine Schande, daß sie im Theater am Gänsemarkt noch immer nur hinter der Bühne bleibe, aber das werde sich nun ändern.
    Vor dem Herrmannsschen und etlichen der Nachbarhäuser stand eine lange Reihe von Kutschen und offenen Wagen, mit denen die Gäste gekommen waren, die nicht in der nahen Nachbarschaft wohnten. Als Brooks die Pferde im Schritt an dem letzten Wagen vorbeilenkte, sah Rosina noch einmal zurück, aber ihr Blick erreichte nicht die breiten, festlich erleuchteten Fenster des großen Hauses. Er blieb an einem der Pferde haften, das vor dem letzten Wagen unruhig mit den vorderen Hufen scharrte. Es war ein ganz unauffälliges Pferd, nicht besonders kostbar, ein Pferd, das man alle Tage vor den Wagen spannte oder ohne den Ehrgeiz eleganter, schneller Reiter für einen Ausritt sattelte.
    Für Rosina war es dennoch ein ganz besonderes Pferd. Wie hatte der Pastor gesagt? Weiße Wadenstrümpfe.
    «Brooks», rief sie mit gedämpfter Stimme und zog den Kutscher aufgeregt am Rock. «Brooks, wenn wir die Jungfernbrücke passiert haben, halt an. Aber nicht vorher. Ich muß dich etwas fragen.»
    Als der Wagen wenig später an St.   Katharinen vorbei auf die Mühren zurollte, wußte Rosina, wem der letzte Wagen gehörte. Und sie wußte auch, wer der Kutscher war, der, in eine Decke gehüllt, den breitrandigen schwarzen Hut gegen den kalten Nachtwind tief über das Gesicht gezogen, auf dem Bock döste.

12.   KAPITEL
    DONNERSTAG, DEN 15.   OKTOBER, NACHTS
    Die Räder des Herrmannsschen Wagens ratterten gerade am Waisenhaus vorbei und über die Schaartorbrücke in die Neustadt, als ein anderer Wagen vor das Herrmannssche Haus rollte. Sein Kutscher hatte es mindestens so eilig wie der von Rosina immer wieder um größere Eile gebetene Brooks. Senator

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