Lorettas letzter Vorhang
van Witten sprang schon heraus, kaum daß die Pferde stehengeblieben waren. Er hämmerte wuchtig an das Portal und eilte, als Blohm endlich geöffnet hatte, den Stimmen und der Musik nach die Treppe hinauf. Der Diener schüttelte den Kopf und ging steifbeinig in die Küche hinunter, um Elsbeth zu sagen, der Senator sei nun endlich und ganz bestimmt hungrig angekommen, sie möge gleich eine Platte von den ansehnlichsten Resten für ihn herrichten. Aber keine Suppe, er könne das dünne Zeug nicht ausstehen.
Der Weddesenator war sogar sehr hungrig, aber er hatte jetzt trotzdem keinen Sinn fürs Essen. Er mußte nicht lange suchen, bis er Claes fand, allerdings nicht, wie er gedacht hatte, im Spielzimmer, sondern schon gleich hinter dem Salon. Das Eröffnungsmenuett war gerade vorüber, und nun wirbelten Monsieur und Madame Herrmanns in einer Sarabande durch den Tanzsaal und sahen dabei nicht einmal angestrengt, sondern einfach nur glücklich aus. Das fand van Witten beachtlich. Er hatte all die kompliziertenSchritte, die natürlich auch er vor mehr als dreißig Jahren lernen mußte, zum Kummer seiner Gattin längst vergessen. Wahrscheinlich hätte es ihn getröstet zu wissen, daß Claes vor seiner Hochzeit mit Anne einen diskreten Tanzmeister engagiert hatte, um die Schritte, von denen auch er nur noch wenige beherrschte, neu zu üben. Aber das wußte außer Blohm und dem Tanzmeister niemand. Das Orchester stimmte den nächsten Tanz an, einen englischen Contredanse, doch bevor sich die Paare in den Runden und Reihen, den schnellen und langsamen Schrittfolgen finden konnten, hatte sich einer der Diener endlich zum Hausherrn durchgedrängt und den späten Besuch gemeldet.
Claes wunderte sich, daß van Witten ihn ungeduldig auf die Galerie hinaus nötigte. Er war viel zu gut gelaunt, vielleicht lag es auch am Bordeaux oder am Burgunder, um ein ernstes Gespräch weit weg von der Musik und dem warmen, biegsamen Körper seiner tanzlustigen Frau zu beginnen. Aber als er van Wittens Neuigkeit hörte, verging seine ausgelassene Heiterkeit schlagartig. Lukas Blank, berichtete der Senator mit zorniger Stimme, sei geflüchtet.
«Keine Ehre im Leib, der Kerl», schimpfte er. «Läßt sich einfach entführen. Wenn wir ihn kriegen, und das werden wir bei Gott, muß er doch hängen.»
Einer der beiden Wächter, fuhr er eilig fort, die er geschickt hatte, den Delinquenten aus der Fronerei ins Rathaus zu bringen, kam, kurz nachdem es vom Dom acht geschlagen hatte, zurück. Er humpelte, an seinem Kopf und an den Fetzen, die einmal der rechte Ärmel seiner Jacke gewesen waren, klebten Blut und Straßenschmutz. Sein Säbel war verschwunden, und was er zu berichten hatte, war niederschmetternd. Sie waren gerade mit Blank, dersich im übrigen bis dahin äußerst gefügig gezeigt habe, am Eimbeckschen Haus vorbei und in die Große Bäckerstraße eingebogen, eine nicht enge, aber doch sehr dunkle Straße, als drei Kerle aus einer Toreinfahrt stürzten. Einer entriß ihnen den Gefangenen und verschwand mit ihm in der schwarzen Nacht, während sich die beiden anderen, bärenstarke Kerle ohne geringsten Skrupel, ordentlichen Männern den Kopf einzuschlagen, über die Wächter hermachten.
Kurz und gut, der eine liege nun noch ohne Bewußtsein, man wisse nicht, ob er je wieder aufwache, der andere sei beim Chirurgus, damit der ihn wieder zusammenflicke. In den vergangenen zwei Stunden habe alles, was er ohne zu großes Aufsehen an Wächtern und Stadtsoldaten auftreiben konnte, versucht, den Flüchtigen und seine Räuber einzufangen. Aber die Stadt sei ein Rattennest, voller Winkel und Gassen, die könne kein Mensch durchsuchen, schon gar nicht bei Nacht, es sei ein Skandal. Aber, um Gottes willen, Claes solle heute abend Stillschweigen bewahren, es sei nicht von Vorteil, wenn es nun schon bekannt werde. Vielleicht treibe man den verfluchten Kerl ja noch vor dem Morgengrauen auf, schließlich seien die Tore geschlossen. Es sei am besten, nun wieder in den Saal zu gehen, als sei nichts geschehen. Auch kein Wort zu Madame van Witten, sie verbreite Nachrichten schneller als eine Brieftaube, die auf scharfem Westwind fliege. Aber wenn er noch ein wenig von dem zweifellos superben Souper bekommen könne? Es sei gewiß noch ein vorzüglicher Rest in der Küche. Und von dem Burgunder? Vor allem und zuerst von dem Burgunder?
Rosina sprang ebenso eilig aus dem Wagen wie der Senator am anderen Ende der Stadt. Brooks fuhr erst davon, nachdemer
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