Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lorettas letzter Vorhang

Lorettas letzter Vorhang

Titel: Lorettas letzter Vorhang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
Vom Netzwerk:
gehört hatte, wie sie den Balken von innen vor das Hoftor gelegt und die Tür zum Krögerschen Haus geöffnet und wieder geschlossen hatte. Der Herrmannssche Kutscher und Stallmeister kannte die Stadt und das Leben. Er traute der Dunkelheit nicht.
    Rosina schlich in die Küche – das Schnarchen der Krögerin summte zwar durchs ganze Haus, aber man wußte nie, wie tief ihr Schlaf tatsächlich war   –, entzündete eine Kerze an der Glut des Herdes und stieg behutsam und auf Zehenspitzen die steileTreppe bis zu ihrer Kammer hinauf. Nun wußte sie also, wer das Grabkreuz gemacht und zum Friedhof gebracht hatte. Der Kutscher der Bellhams. Es waren ja nicht nur die ungewöhnlichen «Wadenstrümpfe» des Pferdes, es war auch die Statur des Mannes gewesen, die das verrieten. Oder spielte ihr nur der Wunsch, dieses schreckliche Rätsel endlich zu lösen, einen Streich? Sahen nicht alle Kutscher, die im kalten Wind unter einer Decke auf ihre Herrschaft warteten, breit und eckig aus? Vielleicht. Trotzdem war sie sicher, daß der Mann, den sie gestern auf dem Hamburger Berg gesehen hatte, jetzt auf dem Kutschbock des Bellhamschen Wagens saß.
    So paßte endlich etwas zusammen. Der Kutscher Melcher, hatte Brooks gesagt, der die Kutscher aller großen Häuser kannte, Hannes Melcher. Er habe der Mistress schon in Köln gedient, wo sie nämlich herstamme, und sei dann immer da gewesen, wo sie gewesen sei, erst in London und dann, die letzten zwei Jahre, in Bristol. Melcher rede nicht viel, was ja auch nicht nötig sei, er sei schließlich kein Pastor oder Senator. Elsbeth halte ihn für einen groben Kerl. Nur weil eines ihrer Mädchen, das jetzt für Melchers Herrschaft koche, gesehen habe, wie er einem beißwütigen Hund ruckzuck den Hals umgedreht habe. Aber er könne das nicht finden, er würde so etwas auchtun, wenn Madame Anne von einer solchen Bestie angegeifert werde.
    Ein leises Geräusch schreckte sie auf. Da war ein Scharren gewesen, als fiele im Hof ein Reisigbesen oder ein Rechen um. Oder waren es tastende Schritte? Sie stellte schnell die Kerze in die hinterste Ecke des Raumes, damit der Lichtschein sie nicht gleich verriet, schob den Rand des Vorhanges einen Zoll breit beiseite und sah hinunter in den Hof. Er war dunkel wie die Straße hinter dem hohen Bretterzaun, und nun war auch alles wieder still. Der Wind hatte aufgefrischt und wohl tatsächlich einen Besen umgeweht, vielleicht war das Pferd der Krögerin auch unruhig und scharrte in seinem Stall im Stroh. Und ganz bestimmt war sie selbst in dieser Nacht empfindsam wie ein Veilchen im Frost.
    Sie stellte die Kerze wieder auf den Tisch und überlegte weiter. Melcher war aus Köln. Wie Loretta. Und er war auch in Bristol gewesen, als dort dieses Mädchen getötet wurde. Wie hatte David gesagt, war ihr Name gewesen? Er fiel ihr nicht ein, sie würde David noch einmal danach fragen müssen.
    Loretta hatte doch von Freundinnen gesprochen, die sie in Köln gehabt hatte, mit denen sie sich auf dem Markt traf, und dann war dort an irgendeinem Tag – einem besonderen Tag? – irgend etwas geschehen. Was nur? Hatte sie nicht auch von einem Starken Mann gesprochen, der ihr besonders gut gefallen hatte? Oder einem der anderen Mädchen? Starke Männer gefielen vielen Mädchen, das war nichts Besonderes, aber Madame van Witten hatte gesagt, Magdalenas Zofe solle mit so einem davongelaufen sein. Das konnten nicht nur Zufälle sein, aber wie paßte das alles zusammen? Es war auch schon einige Jahre her, acht oder zehn, so genau wußte sie es nicht. Und waskonnte im Laufe der Jahre nicht alles aus einer alten Geschichte werden? Da wurden Personen vertauscht, Kleinigkeiten riesengroß, und die Phantasie würzte die Realität bei jedem Weitererzählen mit immer neuen Zutaten.
    Wäre sie doch nur nicht so müde gewesen, als Loretta ihr ihre Geschichte erzählte, hätte sie doch da schon geahnt, wie wichtig es bald sein würde, auch die kleinste Einzelheit zu erinnern. In Rosinas Kopf begannen die Bilder und Namen, die Orte und Begebenheiten zu schwirren, wurden zu einem Knäuel ohne Anfang und Ende, und doch mußte da ein Anfang sein. Und ein Ende.
    Sie war trotz ihrer großen Müdigkeit viel zu erregt, um jetzt zu schlafen. Es ging auf Mitternacht, Stunden zu spät, sich mit jemandem zu beraten. Und noch mehr Stunden zu früh, einen Besuch zu machen. Energisch warf sie den warmen Umhang auf das Bett und klappte ihren Reisekorb auf. Vielleicht gab es in Lorettas Sachen doch

Weitere Kostenlose Bücher