Lorettas letzter Vorhang
ist bei Nacht und in der Mitte des Oktobers kaum zu befürchten. Und schon ist er draußen.»
«Und dann? Wie soll er weiterkommen?»
«Zu Fuß. Ein Mann kann viele Meilen in einer Nacht gehen, und außerdem sind noch genug Pferde auf den Koppeln. Einer, der seinen Kopf retten will, wird keine Skrupel haben, einem Bauern seinen einzigen Klepper zu stehlen. Mit dem kann er die Elbe hinauf oder zu den Gestüten reiten und sich für die Weiterreise ein besseres aussuchen. Wenn er klug genug ist, den Hunden auszuweichen.» Er gähnte herzhaft. «Aber nun versuche dich zu beruhigen und laß uns schlafen. Morgen ist leider nicht Sonntag, und auch wenn uns keine Knute knechtet, beginnt der Tag doch viel zu früh.»
Keine Minute, dachte Anne grimmig, würde sie in dieser Nacht schlafen. Keine einzige. Und dann hörte sie die immer ruhiger werdenden Atemzüge auf dem Kissen neben ihrem Kopf und war eingeschlafen, bevor die Eule, die auf dem Sims über dem Fenster gesessen und den beiden Stimmen gelauscht hatte, auch nur ihre Schwingen ausbreiten und gelangweilt davonfliegen konnte.
FREITAG, DEN 16. OKTOBER MORGENS
Rosina erwachte von einem Hund, der aufgeregt vor dem Hoftor kläffte, und das heiße Gefühl, etwas Dringendes versäumt zu haben, ließ sie schlagartig hellwach werden. Ihr Herz klopfte heftig, sie sprang aus dem Bett, schob die Gardine zur Seite und öffnete das Fenster. Ein grauer Morgen lag über der Stadt, der Wind spielte mit gelben Blättern, die er aus den hinteren Gärten auf die Fuhlentwiete getrieben hatte, und der Hund, dessen Gebell sie geweckt hatte, war schon verschwunden. Ein Fuhrwerk rollte durch die Straße und zwei Frauen in derbleinernen Röcken – die eine dick wie ein Kürbis, die andere dünn und biegsam wie eine junge Birke –, die trotz der frühen Stunde und der schweren Kiepen auf ihren Rücken munter schwatzten, drückten sich an eine Hauswand, um dem Fuhrmann Platz zu machen. Im dritten Stock über einem der Gänge zwischen den beiden gegenüberliegenden Häusern beugte sich ein Mädchen aus einem Fenster und hängte Wäsche auf eine über den Gang gespannte Leine. Die kalte Morgenluft vertrieb den Schrecken des plötzlichen Erwachens, und Rosina schloß das Fenster. Sie goß Wasser in die Waschschüssel und tauchte ihr Gesicht hinein. Die Erinnerung an die letzte Nacht war so lebendig, als hätte sie keine Minute geschlafen. Es wäre ihr lieber gewesen, wenn sie mit der Melodie der Arie im Kopf aufgewacht wäre, aber dieser Gedanke erschien ihr nun so fremd, als sei das selige Gefühl des Singens schon vor Jahren vergangen.
In der Küche hockte Melli, das Mädchen der Krögerin, vor dem Feuer und blies in die Glut. Rosina goß Milch aus dem großen Krug in einen Becher. Rasch trank sie ihn aus.Für heute mußte das als Frühstück reichen; Rosina hatte jetzt keine Lust, der Krögerin zu begegnen und mit ihr zu streiten, ob eine Wirtin das Recht habe, in den Zimmern ihrer Mieter herumzukramen. Der Frühgottesdienst war bald zu Ende, sie wollte keine Zeit verlieren und sich gleich auf den Weg zu Mrs. Bellham machen. Sie wußte noch nicht, was sie ihr sagen, was sie fragen, wie sie es überhaupt anstellen wollte, in dem vornehmen Haus vorgelassen zu werden. Aber der Weg war weit genug, und die frische Luft an der Alster würde ihr helfen, klarer zu denken und eine Lösung zu finden.
Die junge Frau, die einige Zeit später an das Portal des Bellhamschen Hauses klopfte, trug zwar ein Kleid aus schlichtem Kattun, doch der kostbare samtene Umhang um ihre Schultern bewies dem Mädchen, das die Tür öffnete, daß sie trotzdem aus einem reichen Haus kam. Doch, die Herrin sei zurück von St. Petri, aber um diese frühe Stunde empfange sie noch nicht. Wenn es genehm sei, möge Mademoiselle Hardenstein am frühen Nachmittag …
«Ich weiß, wie früh es ist», sagte Rosina, «und ich wäre gewiß nicht zu dieser unziemlichen Stunde gekommen, wenn mein Anliegen nicht von größter Wichtigkeit und Eile wäre. Wenn Mrs. Bellham hört, daß ich eine Freundin von Madame Herrmanns vom Neuen Wandrahm bin, wird sie mich gewiß empfangen. Madame Herrmanns», log sie entschlossen, «wollte mich begleiten, aber nach dem anstrengenden Musikabend gestern ist sie noch ein wenig unpäßlich. Wenn sie mich nun unverzüglich ihrer Herrin melden will!»
Der energische Ton der letzten Worte tat seine Wirkung. Das Mädchen knickste, trat zur Seite, und Rosina stolzierte mit herrschaftlich
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