Lorettas letzter Vorhang
einen Hinweis, den sie und Wagner nur übersehen hatten, weil sie nicht wußten, wonach sie suchen mußten. Sie griff nach dem Beutel, den sie unter ihren Kleidern verborgen hatte, und stutzte. Er lag nicht unter ihren Kleidern. Er lag
auf
ihren Kleidern.
Sie sah sich in der Kammer um. Ein Vorbild für Ordnungssinn war sie nie gewesen, aber in diesem kleinen Raum hatte jedes Ding seinen Platz. Daran hatte sich nichts wirklich geändert, nur unbedeutende Kleinigkeiten, die niemandem außer ihr selbst auffallen konnten. Aus Lorettas Reisekorb, der sorgfältig verschlossen gewesen war, hing nun ein Zipfel ihres grünen Seidenkleides, und der Korb, sonst unter dem Tisch mit dem kleinen Spiegel bis an die Wand geschoben, stand ein ganzes Stück weiter im Raum als gewöhnlich. Und die Binsenmatte, die normalerweise vor dem Bett lag, war aus irgendeinemGrund vor das Fenster gerutscht. Rosina hatte immer vermutet, daß die neugierigen Hände der Krögerin hin und wieder ihre Sachen durchstöberten. Diesmal gab es keinen Zweifel.
Das war ekelhaft, aber darüber würde sie sich morgen Gedanken machen. Jetzt war anderes wichtiger.
Sie nahm den Beutel aus ihrem Korb und schüttete seinen Inhalt auf den Tisch. Das Licht der Kerze war matt, die Krögerin kaufte stets nur die aus billigem, tropfendem Unschlitt, aber es würde reichen.
Sie sah auf die kleinen Habseligkeiten, die ihr von Loretta geblieben waren, und kämpfte gegen eine dunkle, niederdrückende Traurigkeit.
Hilf mir, Loretta, dachte sie, irgend etwas muß ich hier finden, irgend etwas.
Noch einmal öffnete sie jedes der Leinensäckchen, zerrte ungeduldig an den Knoten der Bänder, drehte jeden Schminktiegel, jeden Stift in den Fingern, stülpte auf der Suche nach irgend etwas Verborgenem die Handschuhe um und schüttelte sie. Alles vergeblich. Sie schob die Haarnadeln, Kämme und den Fächer zusammen, blätterte das Rollenheft Seite für Seite durch, schnupperte an den Kräutern und dem Eau de Cologne. Sie faltete den malvenfarbenen Schal, der sie an Lorettas kupferfarbenes Haar erinnerte, legte ihn neben den Fächer und griff nach dem Leinentäschchen mit dem bestickten Tuch. Die Knoten der Bänder lösten sich diesmal leicht, und vor dem Tuch fiel noch die Münze heraus.
Die hatte nicht viel zu erzählen. Sie war klein, dünn und die Prägung kaum mehr zu erkennen. Ein Teil des Schriftzuges mußte Colonia bedeutet haben. Eine Münze aus Köln, natürlich, ein Andenken an Lorettas Heimatstadt. Irgendwer hatte sie ihr gewiß geschenkt. Vielleicht hattesie ihr der elsässische Kaufmann, der sie später mit fortnahm, zugesteckt. Sie griff nach dem Taschentuch, dem letzten Stück aus dem Beutel, faltete es auseinander und strich es auf dem Tisch glatt. Sie hätte viel für eine zweite Kerze gegeben, aber es mußte auch so gehen.
Es war eben ein Tuch, ein in den Ecken besticktes Taschentuch aus nicht sehr feinem Batist. Wenn du am Himmel etwas entdecken willst, hatte ihr einmal jemand gesagt, mußt du nur lange genug hinsehen. Dann werden sich am Tag die Wolken in Gesichter, in Tiere und wilde Landschaften verwandeln, bei Nacht werden aus dem scheinbar ungeordneten Glitzern in der schwarzen Unendlichkeit schließlich die Sternbilder entstehen, die den Seefahrern den Weg über die Meere zeigen und den Weisen den Weg durch das Leben.
Sie starrte auf das Tuch, ihre Augen waren müde und brannten. Gewiß waren sie auch rot wie die einer Schankmagd, wenn sie den letzten Gast aus einer verrauchten Spelunke warf. Die eingestickten Monogramme waren nicht mehr ganz vollständig, aber es war tatsächlich wie bei den Sternbildern am Nachthimmel. Plötzlich sah sie, was dort zu sehen war. In drei Ecken des Tuches war jeweils ein Monogramm, in die vierte ein Kleeblatt gestickt, nicht sehr kunstvoll, aber doch eindeutig ein dreiblättriges Kleeblatt. Drei Blätter, die zusammengehörten, drei Monogramme? Natürlich, das war einfach, es bedeutete drei Freundinnen. Drei Mädchen. Das Tuch war ein Freundschaftstuch, wie es Mädchen einander stickten. Gemeinsam mit der Münze mußte das Lorettas Erinnerung an ihre Jugend in Köln sein.
Rosina war plötzlich hellwach. Sie hielt das Tuch nahe an die Kerze und entzifferte das mittlere Monogramm als ein L und ein G. Oder ein C? Nein, ganz bestimmt ein G.Für Gürlich. L und G, Lore Gürlich. Die Buchstaben rechts davon waren unversehrt und ohne Zweifel ein E und ein H. Das E konnte viel bedeuten. Edda oder Eva? Elisabeth,
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