Lorettas letzter Vorhang
zurücktreten lassen. Löwen hatte Rosina nach dem Musikabend im Herrmannsschen Haus endlich einige Rollen in Singspielen anvertraut, und manchmal, wenn sie auf der fremden Bühne des Schloßtheaters stand, erschienen ihr Lorettas Tod und die Suchenach dem Schuldigen nur wie ein schlechter Traum. Erst vor neun Tagen waren sie nach Hamburg zurückgekehrt, und nun hatte der Anblick eines vorbeiflatternden, hell lachenden Mädchens mit kupferfarbenem Haar und einem sonnengelben Fächer gereicht, um die Freude des Abends plötzlich schal werden zu lassen. Für einen Moment hatte sie auf Madame Hensels Schrei gewartet, auf den ersten und auf den zweiten, als wiederhole sich alles noch einmal. Ihr Herz hatte hart geklopft, als sie die Loge erreicht hatte, aber nun, hoch über den Köpfen der tanzenden und plaudernden Menschen, beruhigte es sich. Vielleicht war das Mädchen mit dem gelben Fächer tatsächlich Loretta. Auf einem kleinen, vergnügten Ausflug von dort, wo immer sie jetzt war. Sie lachte leise.
Corriger la fortune,
hatte Loretta gesagt. Das würde ihr auch in einer anderen Welt gelingen.
Sie beugte sich über die Brüstung der Loge und sah hinunter auf das bunte Wogen im Saal. Der Kronleuchter, die Lichtbäume auf der Bühne, die Notenständer der Musiker und auch die Wandleuchter in den Logen waren heute nur mit den besten Wachslichtern bestückt. Sie tropften kaum, und so blieben Seide, Samt und Zitz-Kattun der glänzenden Roben der Damen und der Röcke der Herren in dieser Nacht fast frei von dem klebrigen Talg der Unschlittkerzen.
In der Loge gegenüber bei den Geschwistern Reimarus entdeckte sie Anne und Claes. Anne lachte hell über irgendeine Bemerkung von Elise Reimarus, und Claes beugte sich einer etwas papieren wirkenden ältlichen Dame zu, von der Rosina wußte, daß sie seine Schwester aus Köln war. Cornelia, hatte Anne gestern erzählt, war vor drei Wochen mit ihrer Kutsche angekommen, trotz zahlreicher heißer Steine in ihren Pelzdecken halb erfrorenund äußerst leidend. Daß sie umsonst durch den Winter gereist war, was, wie sie immer wieder betonte, kein Mensch außer einer liebenden Tante getan hätte, machte ihr Befinden bestimmt nicht besser. Sie war nach Hamburg gekommen, um Niklas wieder nach Köln zu holen, das arme Kind, das sich im Haus seines Vaters nicht wieder eingewöhnen könne. Aber sie hatte zu lange gewartet. Die Briefe, aus denen sie auf den Kummer ihres Neffen geschlossen hatte, waren schon einige Wochen alt. Inzwischen gebärdete sich Niklas zwar immer noch am liebsten stocksteif und verhalten wie ein kleiner Missionar, aber hin und wieder lachte er doch so laut, einmal sogar mit seinem Vater, daß es durchs ganze Haus schallte. Die Herrmanns’ waren über den Grund für Cornelias überraschende Ankunft zutiefst erschrocken gewesen, sie hatten von diesen Briefen nichts gewußt. In der nächsten Nacht hatte Claes sich dazu durchgerungen, seinem Sohn selbst die Entscheidung zu überlassen, und seitdem sah man ihn, egal ob an der Börse, im Kaffeehaus oder in seinem Kontor, nur bester Laune.
Er bedauere sehr, hatte Niklas gesagt, als er in den Salon zitiert und vor die Entscheidung gestellt wurde, wieder nach Köln zurückzukehren oder in Hamburg zu bleiben, er bedauere wirklich sehr. Er sei gerne in Köln gewesen, und er würde natürlich auch gerne zurückkehren. Aber leider – dabei hatte er auf die Silberschnallen auf seinen Schuhen gestarrt, als sei dort ein höchst interessanter, ihm völlig unbekannter Käfer zu begutachten –, er könne Hamburg jetzt nicht verlassen. Die Tante möge das bitte verstehen. Er habe Pflichten übernommen, die dürfe er nicht vernachlässigen. Sie selbst habe ihn gelehrt, die Pflicht als das Höchste anzusehen. Das Pferd, das sein Vater ihm geschenkt habe, könne nicht dem Stallmeisterüberlassen werden. Auch wenn der ein besonders guter Stallmeister sei. Und außerdem – nun schienen mindestens drei Käfer auf seinen Schnallen versammelt –, bevor es Frühling werde, müsse er einen Weg finden, die Schädlinge in Annes Spalierobstbäumen zu bekämpfen, ohne daß dabei die Bäume zu Schaden kämen. Leider. Er müsse nun zu Hause bleiben.
Alle waren sehr berührt. Anne, weil Niklas sie, wie es ihr sehnlicher Wunsch war, das erste Mal bei ihrem Namen anstatt Madame genannt, Claes, weil er das Haus am Neuen Wandrahm zum ersten Mal sein Zuhause genannt hatte. Und schließlich Cornelia, weil sie immerhin die Früchte ihrer Erziehung
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