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Lorettas letzter Vorhang

Lorettas letzter Vorhang

Titel: Lorettas letzter Vorhang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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und auch wenn sie wie alle an Lampenfieber leide, sei sie doch, sobald sie die Bühne betrete, ruhig und sicher. Sie tauche so in ihre Rolle ein, daß ihr die Worte wie die eigenen erschienen und zuflossen. An diesem Abend aber schmerzte ihre Schulter, und gewiß war sie ärgerlich, weil Seyler und Löwen Loretta die Rolle gegeben hatten, ohne sie zuvor zu fragen.
    «Tatsächlich», fügte Rosina zögernd hinzu, «ist sie klug und erfahren genug, zu wissen, daß Loretta für sie eine echte Konkurrentin werden würde. Geworden wäre, meine ich.»
    Jedenfalls geschah, was sonst nie geschah, Madame stolperte im Text. Es fiel zunächst niemandem auf, weil Loretta eben in der Kulissengasse stand und aushalf. Aber dann plötzlich nicht mehr, Madame wußte nicht weiter, und keine Stimme flüsterte ihr aus den Kulissen die nötigen Worte zu. Es reiche ja meistens schon ein Wort als Brücke zum verlorenen Text.
    «Ich stand in der zweiten Kulissengasse auf der anderen Seite der Bühne», erklärte Rosina weiter. «Als ich merkte, daß Madame keine Hilfe mehr bekam, flüsterte ich den Text. Ich kann ihn auswendig, aber ich hatte große Sorge, daß man es im Parkett hören könnte, denn Madame war ja etliche Fuß weit entfernt.»
    «Deshalb flatterte sie also plötzlich wie ein aufgeschreckter Vogel quer über die Bühne?» fragte Anne.
    «Ja. Sie hatte mein Flüstern gehört, aber die Wortenicht verstanden, also beeilte sie sich, näher zu kommen, und dann ging es ja auch weiter. Aber die fatale Situation, das Schweigen der Souffleuse, hatte sie so erschreckt und beschämt, daß sie in Panik geriet und schließlich zu früh von der Bühne stürzte. Und tatsächlich stürzte. Denn in der Kulissengasse lag ein großer Kleiderhaufen, was sie empörend fand, dort darf niemals etwas herumliegen. Es ist ja ziemlich dunkel hinter der Bühne, und der Abgang der Schauspieler muß geräuschlos sein. Sie stolperte   …»
    «Und da schrie sie das erste Mal?»
    «Ja, Wagner. Da schrie sie das erste Mal.» Rosina schluckte. «Ich war zuerst wie erstarrt, ich hatte noch nie erlebt, daß eine Szene so verunglückte. So etwas darf einfach nicht passieren. Und als ich den zweiten Schrei hörte – er war so grauenvoll   –, habe ich gar nicht mehr nachgedacht und bin einfach quer über die Bühne gelaufen. Und dann sah ich sie.»
    Alle am Tisch wußten, was Rosina gesehen hatte. Madame Hensel lag halb aufgerichtet in der Kulissengasse, mit vom Schrei noch weit offenen Mund und dem blanken Entsetzen in den Augen. Sie hatte zornig den Kleiderhaufen beiseite schieben wollen, hatte das obenauf liegende Tuch weggezogen und entdeckt, daß der Kleiderhaufen gar keiner war, sondern Loretta, deren tote Augen sie anstarrten. Nach dem ersten Entsetzen, berichtete sie Dr.   Reimarus später, habe sie gedacht, Loretta sei nicht tot, das könne ja gar nicht sein, sondern spiele ihr nur einen Streich, einen besonders degoutanten, entsetzlichen Streich.
    Aber Loretta war tot, und bis der Arzt eintraf, herrschte hinter der Bühne ein großes Chaos. Rosina erinnerte sich nicht mehr an Einzelheiten. Sie kniete neben ihrer Freundin, und als sie begriffen hatte, daß alles Rufen und Schüttelnnichts half, daß sie tatsächlich tot war, saß sie einfach da, Lorettas Hand umklammernd, und das Geschehen um sie herum verschwand hinter einem dicken Nebel, bis Dr.   Reimarus sie sanft beiseite schob. Dann war da plötzlich Claes Herrmanns, der ihr ein Glas Branntwein in die Hand drückte, Anne, die es ihr schließlich an die Lippen führte, und auch Wagner tauchte aus dem Nebel auf, das wie stets sorgenvolle Gesicht noch sorgenvoller, aber seine Augen, das hatte Rosina selbst in ihrer Verwirrung bemerkt, wacher denn je. Wie die Augen eines Bussards, der auf der Suche nach Beute über einem abgeernteten Feld seine Kreise zieht.
    Claes und Anne hatten nicht wie die anderen das Theater verlassen. In großer Sorge um Rosina hatten sie sich den Weg hinter die Bühne erkämpft, gefolgt von Agnes und Thomas Matthew. Agnes begann allerdings beim Anblick der Toten so sehr zu zittern, daß Thomas seine Frau sofort nach Hause begleitete, was ihm außerordentlich leid tat, denn so etwas, vertraute er Claes einige Tage später im Kaffeehaus bei einer Partie Billard an, erlebe man schließlich nicht alle Tage. Man solle das Theater zukünftig doch mehr unterstützen. Es wäre jammerschade, wenn es schließen müßte.
    Wagner hatte an diesem Abend noch mit Löwen, Seyler und

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