Lorettas letzter Vorhang
möglicherweise ein wenig indiskret sein würden.
Rosina nickte und sah ihn aufmunternd an. «Ich will auch wissen, wer es war. Fragt alles, was Ihr fragen wollt.»
Wagner steckte das große Tuch, das er sicherheitshalber für seine schwitzende Stirn bereitgehalten hatte, wieder in seinen Rock. Heute würde er nicht schwitzen müssen. Der Weddemeister war ein kleiner, dicker Mann, und wer ihn nicht kannte, hielt ihn auf den ersten Blick auch für einen kleinen, dummen Mann. Das war ein Fehler, denn er war vielleicht schüchtern und in Gegenwart von Senatoren und reichen Kaufleuten häufig unbeholfen, aber er war ein Jäger. Und sein harmloses Gesicht war, auch wenn er das gar nicht beabsichtigte, die beste Tarnkappe.
«Dr. Reimarus», begann er, «hat die Tote im Eimbeckschen Haus noch einmal gründlich untersucht, wie es seine Pflicht ist, wenn jemand eines unnatürlichen Todes gestorben ist, und er hat nur gefunden, was er gestern abend schon sagte. Jemand hat Mademoiselle Grelots Genick gebrochen. Und, das sagte er ausdrücklich, wer immer es getan hat, muß sich gut auskennen mit, nun ja, wie soll ich es nennen, mit solcherlei Praktiken. Wenn man es versteht, geht es ganz schnell und lautlos, anders als …» Ihm fiel gerade noch rechtzeitig ein, daß nun nicht der richtige Zeitpunkt war, den Unterschied zum Erwürgen und Erschlagen zu erläutern. «Ja, anders als andere Praktiken. Aber genug davon. Im Theater hat man mir gesagt, Mademoiselle Grelot habe mit Euch ein Zimmer im Krögerschen Haus geteilt, Rosina, und niemand kenne sie so gut wie Ihr. Ihr wißt wohl trotzdem nicht, wer für so eine Tat verdächtig sein könnte?»
Darüber hatte Rosina die ganze Nacht nachgedacht, und auch wenn ihr einiges eingefallen war, schwieg sie nun. In ihrem Kopf war noch ein großes Durcheinander, und sie wußte gut, wie flink einer eingesperrt und sogargehenkt werden konnte, nur weil jemand seinen Namen genannt oder ihn verdächtig gefunden hatte.
«Nun», sagte Wagner. «Nun?»
«Ihr seht doch», mischte sich Anne schon ungehalten ein, «Rosina ist noch sehr verwirrt. Laßt ihr Zeit, und wenn sie darüber noch nachdenken muß, so fragt sie doch etwas anderes.»
«Gewiß, Madame Herrmanns, aber wir sollten uns nicht zuviel Zeit lassen. Das hilft nur dem Schurken zu entkommen.» Wagner sah den Kummer in Rosinas Augen, und es tat ihm weh, sie jetzt schon mit Fragen quälen zu müssen. Aber andererseits kannte er sie gut genug, um zu wissen, daß trotzdem hinter ihrer glatten Stirn ein präzises, ungeduldiges Uhrwerk arbeitete, um die Ereignisse der letzten Nacht immer wieder zu überdenken.
«Nun gut. Etwas anderes. Wir alle waren gestern abend im Theater, Rosina, aber Ihr seid die einzige, die hinter der Bühne war, jedenfalls bevor Mademoiselle Grelot starb. Sie war an diesem Abend die Souffleuse, das hat mir Monsieur Löwen gesagt. Geschah vor der Vorstellung etwas Ungewöhnliches? Gab es einen Streit? Oder waren Fremde hinter der Bühne? Überhaupt irgend jemand, der da nichts zu suchen hatte?»
Rosina schüttelte den Kopf. «Nein, nichts Ungewöhnliches. Es war eher ruhig. In dem Stück, das gestern gegeben wurde, treten neun Personen auf, zwei Frauen und sieben Männer. Das sind nicht sehr viele. Das Stück hat ja keine stummen Rollen. Ich weiß nicht, was in der Garderobe der Männer vor sich ging, sie ist im Anbau hinter dem Theater, aber bei uns war es ruhig. Madame Hensel war da, natürlich, sie fühlte sich nicht sehr wohl, und sie ist manchmal etwas …», Rosina suchte nach dem richtigen Wort, «manchmal etwas harsch. Aber gestern war sie ehermilder als sonst. Und Mareike war da, ihre Garderobiere, ein stilles Mädchen, ich habe sie kaum bemerkt. Mademoiselle Schulz, die die Haushofmeisterin spielte, war natürlich auch da. In der zweiten Garderobe waren die Tänzerinnen, aber die meisten von ihnen kamen erst, nachdem die Anfangsmusik begonnen hatte. Ihr Auftritt sollte den Abend beschließen, bis dahin war noch viel Zeit. Ich kenne sie kaum, und ich weiß nicht, ob in ihrer Garderobe etwas Ungewöhnliches geschah.»
«Und Mademoiselle Grelot? War sie anders als sonst? War sie unruhig oder bedrückt?»
«Nein.» Obwohl Rosinas Augen sich wieder mit Tränen füllten, lächelte sie. «Nein, sie war sehr vergnügt. Am nächsten Abend, heute abend sollte sie endlich ihren Auftritt haben. Sie hatte Monsieur Löwen erst vor wenigen Tagen eine große Rolle abgerungen, und sie war natürlich ein wenig
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