Lorettas letzter Vorhang
Madame Hensel gesprochen. Auch mit dem Kritiker, Monsieur Lessing, der zwar nicht wie sonst im Parkett gewesen war, sondern, so sagte er, erst aus der Schankstube im hinteren Teil des Theaters kam, als der Lärm von der Bühne immer größer wurde und sich gar nicht mehr nach der Komödie von Mr. Addison anhörte. Er hatte das Stück bei der ersten Aufführung im Mai gesehen und in seinem Journal kritisiert, um genau zu sein, nur kurz erwähnt. Mehr verdiene es nicht. Er wüßte keinen Grund, wahrlichkeinen Grund, betonte er, es ein zweites Mal durchzustehen. Nein, in der Schankstube seien immer nur in der Pause Leute aus dem Publikum. Danach sei kein Fremder dort gewesen, außer ihm überhaupt nur einer von der Feuerwache, worüber man gewiß besser schweige, denn sein Platz sei ja in den Kulissen, und einer der Tänzer. Der Name sei ihm entfallen. Und natürlich Monsieur Seyler, mit dem er ein Glas getrunken und sich aufs schönste über die schreckliche Schändung der Shakespeareschen Texte auf den deutschen Bühnen gestritten habe. Monsieur Lessing erschien Wagner äußerst bekümmert über den Tod der jungen Komödiantin, und er war froh, die ersten Namen von der langen Liste der verdächtigen Theaterleute streichen zu können. Falls Monsieur Seyler die Worte des Kritikers bestätigen würde.
Alle anderen, die dichtgedrängt um die Tote herumstanden, waren viel zu aufgeregt und entsetzt gewesen, um halbwegs vernünftig auf seine vernünftigen Fragen zu antworten. Wagner würde in den nächsten Tagen noch viele Stunden im Theater verbringen müssen.
Was er selbst gesehen hatte, erzählte er nicht. Er war auf der Galerie gewesen, als die seltsamen Schreie und der Ruf nach dem Vorhang ertönten, und gleich hinunter und hinter die Bühne geeilt. Er hatte Madame Hensel schluchzen sehen, Monsieur Ekhof, der immer noch verkleidete Baron, sprach ein stummes Gebet, und Monsieur Ackermann, auf der Bühne das falsche, trommelnde Gespenst, schickte seine beiden Töchter, Charlotte und Dorothea, nach Hause, nicht ohne ihnen einen Hornisten und zwei Oboisten zur Bewachung mitzugeben. Was Umsicht und Vernunft bewies. Natürlich war es nie klug, zwei Kinder, ganz besonders Mädchen, am Abend alleine durch die Straßen laufen zu lassen, aber diese Begleiter hattenzudem zur Zeit des Mordes sichtbar für das ganze Publikum brav vor ihren Notenständern gesessen. Wagner hatte auch gesehen, daß der englische Violinist, den Rosina nun als David Rhye bezeichnete, eine ganze Weile neben ihr kniete, und trotz der Dunkelheit glaubte Wagner bemerkt zu haben, daß seine Aufmerksamkeit eher Rosina als der Toten galt. Rosina protestierte nicht, als Claes Herrmanns beschloß, sie werde diese Nacht nicht in ihrem Zimmer bei der Krögerin verbringen, sondern mit ihm und Anne in den Neuen Wandrahm fahren, Brooks warte mit der Kutsche voll warmer Decken vor dem Tor. Sie war ihm dankbar, sie hätte weder die Fragen der Krögerin noch den Anblick des leeren Bettes ertragen.
«Und nun …» Wagner räusperte sich. Er war eine Amtsperson, er hatte seinem Auftrag zu folgen, was ihm normalerweise nicht schwerfiel, aber hier, im Salon des Hauses Herrmanns, zwischen Seide, geblümtem Kattun und duftendem Kakao in einer Tasse aus Meißner Porzellan, war er plötzlich nicht nur wegen der ungewohnten Umgebung unsicher. Es war viel schlimmer. Im letzten Jahr, nach dem plötzlichen Tod des Zuckerbäckers Marburger auf der Bastion Albertus, hatte Senator van Witten Claes Herrmanns gebeten, ihn, Wagner, bei der Suche nach dem Täter zu unterstützen. Und nun? Wagner glaubte nicht, daß der Senator das auch diesmal getan hatte, wahrscheinlich erfuhr er gerade jetzt erst von dem Mord im Theater. Aber Claes Herrmanns schien es offensichtlich selbstverständlich, daß er auch jetzt wieder der geheime Helfer der Wedde sein würde. Im letzten Sommer hatte es tatsächlich gute Gründe für den Einsatz des Kaufmanns gegeben, doch jetzt? Hier ging es um das Theater, da würde einer wie Herrmanns gleich auffallen, was der Aufklärung der bösen Tat nur hinderlich sein konnte.
Andererseits hatte er sich, abgesehen von einigen gefährlichen Eigensinnigkeiten, gar nicht so dumm angestellt, und, auch das wußte Wagner, es würde ihm kaum gelingen, ihn daran zu hindern. Wahrscheinlich würde er gleich behaupten, es sei ihm ein Anliegen und eine Pflicht, bei der Suche nach dem Mörder einer Freundin Rosinas, die ja eine enge Freundin des Hauses Herrmanns sei, zu
Weitere Kostenlose Bücher