Lorettas letzter Vorhang
unruhig, aber doch ihres Erfolges ganz sicher. Sie war tatsächlich eine wunderbare Komödiantin. Viel besser, als alle dachten.»
Wagner nickte. Die Feder in seiner Hand kratzte eilig über das Papier, dazu würde er später noch Fragen haben.
«Und sie war gestern pünktlich?»
Rosina wischte energisch eine Träne ab, die langsam über ihre Wange rollte. «Pünktlich? Doch, sie war pünktlich, das heißt, sie kam keine Minute zu früh. Madame war schon ein wenig unruhig. Loretta kam immer auf die letzte Minute, aber sie war nie wirklich zu spät. Sie nahm das Theater sehr ernst, auch wenn es manchmal nicht so schien. Ernster als irgend etwas in ihrem Leben.»
«Gab es denn etwas anderes, das sie hätte ernst nehmen können?» fragte Claes, der bisher schweigend zugehört hatte, und beugte sich neugierig vor. «Es gab doch bestimmt Verehrer.»
«Mehrere. Sie war sehr charmant.»
«Verehrer.» Wagner nickte zufrieden. «Wen?»
«Ihr meint außerhalb des Theaters?»
«Ich meine überall.»
Rosina seufzte. «Zuletzt war da Lukas Blank, ein Kattundrucker. Aber er ist sehr freundlich, auch kein grober Mensch, und ich kann mir nicht vorstellen, daß er so etwas tun würde.»
Lukas Blank
, notierte Wagner, und:
freundlich, nicht grob
. Dahinter setzte er ein Fragezeichen. «Wißt Ihr, in welcher Druckerei er arbeitet?»
«Bei Schwarzbach», sagte Claes, als Rosina den Kopf schüttelte. «Er war gestern abend im Parkett. Wir sahen ihn von der Loge aus. Aber ich glaube, kurz bevor das Orchester begann, ging er hinauf in die Galerie. Jedenfalls verließ er das Parkett.»
«Und? War er sich mit Mademoiselle Grelot einig?»
Das wußte Rosina nicht, und sie sah keinen Grund, von der kurzen Szene zu berichten, die sie am Abend zuvor im Hof beobachtet hatte. Warum auch? Das war nur eine kleine Auseinandersetzung, wie man sie mit Loretta jeden Tag haben konnte.
«Ich weiß nicht so genau um ihre Verehrer. Sie wohnte ja erst wenige Tage mit in meinem Zimmer.»
«Und
im
Theater? Madame Hensel mochte sie gewiß nicht besonders gerne, das wissen wir, aber Madame war zur Zeit des Todes auf der Bühne. Das haben Hunderte von Menschen gesehen. Gab es da – Verbindungen?»
«Monsieur Seyler setzte sich in der letzten Zeit sehr für Loretta ein, aber ich glaube nicht, daß er – ich meine, jeder weiß, daß Monsieur Seyler ein großer Verehrer Madame Hensels und immer galant mit den Frauen ist. Und ob die Sache mit David stimmt, weiß ich wirklich nicht.»
«David?»
«Ach, Wagner, guckt nicht gleich so gierig. David Rhye ist einer der Violinisten, ein Engländer aus Bath und ein großer Musiker. Mareike, Madame Hensels Garderobiere, hat gesagt, daß sie Loretta und ihn in einer Lustschute auf der Alster gesehen hätte. Aber Loretta hat nie von ihm erzählt, es kann nicht von Belang gewesen sein, und vielleicht hat Mareike sich auch geirrt oder nicht genau genug hingesehen. Fragt sie am besten selbst. Oder ihn. Aber ich kann mir nicht vorstellen …»
«Ich weiß, Rosina, Ihr könnt Euch nicht vorstellen, daß er so etwas tun würde.»
«Nein, Wagner, das kann ich nicht. Auch wenn Ihr jetzt denkt, ich sei einfältig und blind für alles Schlechte. Ihr wißt genau, daß ich das nicht bin.»
In diesem Moment öffnete sich die Tür, und Blohm brachte ein Tablett mit einer großen Kanne Schokolade und einer Platte mit Quittenbrot und kleinen Carlsbader Kuchen voller Rosinen, Zimt und Mandeln.
«Laßt uns noch einmal untersuchen, was gestern während des letzten Aktes auf der Bühne und besonders hinter der Bühne passiert ist», sagte Wagner, als Blohm den Salon wieder verlassen hatte, und schnupperte mit Behagen am süßen Dampf des mit Anis, Muskat und Vanille verrührten Kakaos, einem für ihn ganz unerhörten Luxus. «Warum war Madame Hensel so verwirrt? Warum ist sie mitten in der Szene von der Bühne gelaufen? Oder war die Szene zu Ende gespielt?»
«Fast zu Ende, aber doch nicht ganz.» Und dann erzählte Rosina noch einmal, was gestern abend geschehen war.
Loretta habe in der vorderen Kulissengasse gestanden, genau auf dem Platz, den die Souffleuse immer einnehme.In einigen der großen Hoftheater, erklärte sie, gebe es einen kleinen Kasten genau in der Mitte am Proszenium der Bühne zwischen den Rampenlichtern, in dem die Souffleuse während der ganzen Vorstellung sitze wie in einer Kiepe. Aber in diesem eben nicht. Madame Hensel brauche normalerweise keine Einhelferin, sie habe ein wunderbares Gedächtnis,
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