Lorettas letzter Vorhang
Warum?»
Tränen rannen über ihr Gesicht, rannen und rannen, wurden zu einem großen, nassen Fleck auf ihrem Brusttuch, und je mehr sie weinte, um so mehr wich ihr Zorn einer hilflosen Trauer. Und endlich verging ihre Starre, endlich konnte sie sich in Annes schützende Arme lehnen und beginnen, den Schmerz zu fühlen und zu ertragen.
«Ich habe sie ja nicht lange gekannt», sagte sie stockend, als sie ihre Stimme wiederfand, «nur ein paar Wochen. Sie war so anders als ich, und auch wenn ich oft falsch fand, was sie tat, mußten wir immer darüber lachen. Sie war so fröhlich, immer so fröhlich. Und sie glaubte so fest an eine gute Zukunft. Sie war stark, sie glaubte an sich.»
«Und sie war am Theater deine einzige Freundin.»
Rosina nickte, griff nach dem Tuch in Annes Schoß und putzte sich wütend die Nase. «Alle haben immer geglaubt, daß ich ihr helfe, beim Rollenlernen, bei der Krögerin, pünktlich zu sein – lauter Nichtigkeiten. Sie hat mir viel mehr geholfen. Weil sie war, wie sie war, wurde das Leben in ihrer Nähe heiterer. Mit Loretta gab man seine Ziele nicht auf, weil sie so fest an ihre glaubte. Es gabkeine schwarze Wolke, hinter der sie nicht auch einen hellen Schimmer entdeckte.»
Es klopfte, und bevor Anne «Herein» rufen konnte, schob Elsbeth schon vorsichtig ihren Kopf durch die Tür.
«Ich weiß, ich störe. Aber der Weddemeister ist da, und der Herr läßt fragen, ob Rosina in den Salon …»
«Jetzt nicht, Elsbeth. Sag ihm, Mademoiselle Rosina brauche noch Ruhe. Er soll am Nachmittag wiederkommen. Oder besser morgen.»
«Nein, Anne. Das ist sehr fürsorglich, aber – nein, ich will mit Wagner sprechen. Sag ihm, ich sei gleich unten im Salon, Elsbeth. Wenn ich vorher noch eine Kanne Wasser haben könnte? Mein Gesicht», sie legte die Handrücken auf ihre Augen und versuchte ein Lächeln, «sieht gewiß erschreckend aus.»
«Ich dachte, daß Ihr frisches Wasser brauchen würdet», sagte Elsbeth und hielt die Kanne hoch, die sie, mit einem Leintuch bedeckt, hinter ihrem Rücken verborgen hatte. «Es ist gut gekühlt.»
«Na gut.» Anne seufzte. Sie hatten einen so friedlichen Sommer gehabt, abgesehen von dem Bemühen um dieses fremde Kind, das der jüngste Sohn des Hauses war und es einfach nicht sein wollte. Diesmal würde eben der Herbst alles durcheinanderbringen. Und auch wenn Annes Mitgefühl tief und echt war, spürte sie in einer kleinen Kammer ihrer Seele ein elektrisierendes Gefühl. Noch zu fern, um darüber Scham zu empfinden, aber deutlich genug, um zu verstehen, daß Rosina nichts abhalten würde, herauszufinden, wer sich am vergangenen Abend in die Kulissen geschlichen und Lorettas Leben ausgelöscht hatte. «Wenn du unbedingt willst, sprich mit Wagner. Und mit Claes, denn ich bin sicher, daß er genauso ungeduldig hören will, was du weißt, wie der Weddemeister.»
Sie goß das Wasser in die große Schale auf dem Tisch und sah zu, wie Rosina ihr Gesicht hineintauchte, sah den zarten weißen Nacken und spürte einen kurzen, heißen Stoß von Angst.
«Ich werde mit hinuntergehen», sagte sie schnell, «und aufpassen. Männer haben kein großes Talent zu merken, wenn genug gefragt ist. Und, Elsbeth, hol bitte ein frisches Brusttuch aus meinem Schrank. Das mandelfarbene, das macht nicht so blaß wie ein weißes.»
Als die beiden Frauen den Salon betraten, saßen Claes und Wagner, der Kaufmann und der Weddemeister, einträchtig über einen großen Bogen Papier gebeugt. Das geöffnete Tintenfaß stand auf dem Tisch, und die ersten schwarzen Kleckse breiteten sich auf dem polierten Kirschholz aus.
Elsbeth, die Anne und Rosina begleitet hatte, rannte davon, um für die Rettung des schönsten Tisches im Haus eine Filzunterlage aus dem Kontor zu holen, obwohl sich heute niemand ernstlich Gedanken um Tintenflecke machte. Anne und Rosina setzten sich Wagner und Claes gegenüber, und nachdem Anne mit einem kurzen, aber eindeutigen Blick klargemacht hatte, daß es ihr völlig egal war, ob das hier eine amtliche Vernehmung war, lehnte Claes sich mit verhaltenem Grinsen zurück und überließ Wagner das Wort. Er liebte seine Frau auch wegen ihrer Starrköpfigkeit.
Er bedauere sehr, begann Wagner, er wisse, die Tote sei eine Freundin gewesen, aber gerade deshalb, sie werde verstehen, sei besonders wichtig, was sie wisse und zu sagen habe. Auch wenn seine Fragen – er hüstelte auf die Art, die Rosina schon so gut kannte, und knetete seine kleinen, runden Hände –
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