Lorettas letzter Vorhang
anno 1757, hätte er womöglich wieder eine Flut vor sich her getrieben, die nicht nur an der Küste, sondern auch in den Elbniederungen bis ins Hamburgische hinein viele Menschen Gut und Leben gekostet hätte.
Selbst Bocholt, ein außerordentlich honoriger Kaufmann, der schon seit ihrer gemeinsamen Schulzeit am Johanneum Klatsch zutiefst verabscheute, aber immer den neuesten wußte, fielen keine Fragen mehr zu dem Skandal im Theater ein.
«Ob nackt oder nicht», sagte er zu Claes, «tot ist tot.» Und bestellte seine dritte Tasse Kaffee. Im Hafen war letzte Woche eine Ladung mit Bohnen aus Martinique eingetroffen, die waren ihm die liebsten. «Mit Dänemark», sagte er dann, «muß nun endlich was passieren. Ich habe gerade gehört», er senkte seine Stimme und beugte sich ein wenig näher zu Claes’ Ohr, «es soll Verhandlungen geben, damit die ewige Geldschneiderei aufhört. Anderthalb Millionen Mark Lübisch allein in den letzten acht Jahren, nur damit der Däne seine Truppen von unseren Wällen weghält! Das ist nun wirklich genug.»
Claes nickte. Die dänischen Erpressungen waren schon seit Jahrzehnten ein Skandal, aber Friede war eben nicht billig und Krieg noch viel teurer. Und während Bocholt ihm ausführlich erklärte, welche Lösung für den dänischen Ärger der lukrativste wäre, Neuigkeiten, die fürClaes so frisch waren wie schrumpelige Äpfel im Februar, wanderten seine Augen über die Gesichter der Männer, die sich an den Tischen und am Tresen drängten.
Die meisten waren Kaufleute wie er. Jensens Kaffeehaus nahe der Börse war von Anfang an ihr Treffpunkt gewesen, aber auch die Gesandten aus anderen Städten und Ländern und Reisende, die in Geschäften oder zum Vergnügen an die Elbe kamen, trafen sich bei Jensen. Im Kaffeehaus wurden mindestens so viele Geschäfte angeknüpft wie in den Kontoren. Auch die eine oder andere Ehe wurde hier ebenso eingefädelt wie der Verkauf von Gartenhäusern oder Schiffsanteilen. Es gab nun schon elf Kaffeehäuser in Hamburg, und auch wenn sie für alle, die es sich leisten konnten, offen waren, hatte jedes seine besonderen Gäste. Gelehrte, Literaten, Journalschreiber und neuerdings auch einige der Schauspieler waren bei Jensen selten zu treffen, die fand man eher im Dresserschen Kaffeehaus bei der Trostbrücke. Die Menschen reisten zwar häufiger in die weite Welt und immer häufiger, um einfach nur fremde Länder, Leute und Künste kennenzulernen, aber zu Hause blieben sie am liebsten unter sich. So waren die Menschen eben. Hätte Claes Herrmanns darüber nachgedacht, wäre es ihm seltsam erschienen. Aber da es ihm selbst nicht anders ging, dachte er nicht darüber nach.
Am Tisch bei den Fenstern saß ein junger Mann, den er nicht kannte. Sein sonnengelber Rock, die üppige Perücke und die besonders reichen Spitzenmanschetten ließen den Franzosen ahnen. Gerade brachte Jensens Gehilfe ihm Feder, Tinte und Papier. Claes hatte ihn in den letzten Tagen mehrmals bei einer Partie L’hombre gesehen. Wahrscheinlich, dachte er und grinste in Erinnerung an seine eigene, lange zurückliegende Lehrzeit in London,schrieb er nach Hause um eine Aufbesserung seiner Reisekasse.
«Herrmanns, du hörst mir wieder überhaupt nicht zu.» Bocholt schubste ihn leicht mit dem Ellbogen.
«Entschuldige, alter Freund, wirklich nur die letzte Minute. Aber du hast recht, ich bin auch nicht sicher, ob Graf Schimmelmann der richtige Mann für die Verhandlung mit den Dänen ist. Der ist schon selbst zu dänisch. Aber sag mal: Wer ist der Junge da drüben im gelben Rock?»
«Das weiß ich auch nicht. Wohl irgendein Sohn auf seiner Bildungsreise, so was machen die jungen Herren ja neuerdings. Bringt sie nur auf dumme Ideen. Der älteste Marburger zum Beispiel. Der ist nach Italien gereist, und nun will er in Rom bleiben und Maler werden. Eine Schande. Hätten sie ihn nach der Lehre gleich ins Kontor gesteckt, wäre das nicht passiert. Der Junge da drüben ist nicht von Belang. Jensen sagt, er sei aus Straßburg, und wer macht schon Geschäfte mit Straßburg? Im Elsaß ist doch kaum mehr als Krapp zu holen.»
Straßburg. Soso. Aber nein, das war unmöglich, der Gelbrock am Fenster mochte gerade zwanzig Jahre alt sein, er war viel zu jung. Am Morgen, als sie im Salon gesessen und überlegt hatten, wer Lorettas Tod wünschen konnte, hatte Rosina auch deren abenteuerliche Geschichte erzählt. Wagner hatte fleißig notiert, aber sie waren sich schnell einig geworden, daß er diesen
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