Lorettas letzter Vorhang
Hinweis getrost wieder streichen könne. Rosina wußte nicht genau, wie lange es her war, daß Loretta sich mit ihrem selbst zugeteilten Lohn davongeschlichen hatte, doch ganz gewiß etliche Jahre. Es war sehr unwahrscheinlich, daß ihr verlassener Liebhaber sich nun plötzlich auf die Suche begab, und noch unwahrscheinlicher, daß sein Groll ausreichte, heimlich ins Theater zu schleichen und zu töten. Das mochte auf der Bühnevorkommen, aber nicht im wahren Leben. Lorettas Straßburger mußte nun auch mindestens um die Dreißig sein. Wahrscheinlich war er längst ein braver Ehemann und Familienvater und hatte Loretta und seine verschwundenen Silberleuchter als Jugendsünde abgetan und vergessen.
Nahe der Tür zum Billardraum setzte sich der holländische Gesandte zu einem Mann, den Claes noch nie gesehen hatte. Er war kräftig, trug bestes englisches Tuch, und das volle Gesicht unter seiner schlichten Perücke strahlte diese Mischung aus Leutseligkeit und selbstgewisser Zufriedenheit aus, von der Claes nie wußte, ob er sie beneiden oder ihr besser mißtrauen sollte. Jensen brachte den beiden Männern Tee, und die Tiefe seiner Verbeugungen ließ darauf schließen, daß es sich um allerbeste Kunden handelte.
«Und wer ist der da drüben bei van Zoom? Ich kann mich nicht erinnern …»
«Wenn du immer so unaufmerksam bist wie heute, kannst du ihn natürlich nicht kennen. Das ist Bellham, der wohnt schon seit Wochen in der Großen Reichenstraße, in diesem Haus mit der seltsamen Fassade ganz aus Sandstein, kann nicht gut sein, auch wenn es recht manierlich aussieht. Aber die Löwenköpfe am Giebel, ich weiß nicht. Findest du so was christlich?»
«Sicher sind das keine osmanischen, sondern christliche Löwen, Bocholt. Was tut er in Hamburg? Warum ist er hier?»
Bocholt zuckte mit den Achseln. «Geschäfte machen, was sonst? Ich weiß aber nicht, welche. Er soll auch hinter dem Kattun hersein. Aber wenn er schlau ist, kümmert er sich um Tabak. Das sage ich. Du wirst eines Tages an mich denken, Herrmanns, Tabak ist jetzt schon ein gutes Geschäft, aber in Zukunft wird es das größte werden. Sogroß wie Kaffee. Wenn wir erst selbst Schiffe nach dem amerikanischen Virginia und Maryland …»
Aber Claes hörte schon wieder nicht zu. Das also war «der liebe Robert», wie Agnes gesagt hatte. Ihre Cousine Magdalena mochte noch so streng und bescheiden sein, sie hatte offensichtlich einen Mann geheiratet, der es sich gerne gutgehen ließ.
Plötzlich fühlte er Unwillen. Da saß er im Kaffeehaus herum, sah den Leuten in die Gesichter, wie ein Bauer, der seinen Weizen nach giftigem Mutterkorn absucht, und überlegte, wer von diesen Männern ein Spitzbube sein könnte. Ein ekelhaftes Geschäft, er sollte es wirklich Wagner überlassen. Für seinen Weg zurück in sein Kontor am Neuen Wandrahm brauchte er heute nur halb so lange wie gewöhnlich.
Wagner fand sein Geschäft nur selten ekelhaft, was vielleicht daran lag, daß er seit vielen Jahren daran gewöhnt und von seinem Nutzen überzeugt war. Heute hatte er es sogar äußerst anregend gefunden, jedenfalls bis zum Mittag, nun verschwand die Sonne bald hinter den Wällen, und er hatte das Gefühl, von allen, die er befragte, nur einen auswendig gelernten Text zu hören. Niemand hatte Loretta besonders gut gekannt, er solle doch Rosina fragen. Nein, niemand hatte gestern abend einen Fremden hinter der Bühne gesehen, allerdings sei das auch nicht ganz leicht, weil ja immer etliche Leute hinter der Bühne zu tun hätten, und da sei kaum Licht, weil das bei der Aufführung störe, und an Kerzen müsse man stets sparen. In der Dunkelheit sehe jeder gleich aus. Nein, natürlich nicht ganz gleich, aber in diesem Theater arbeiteten mehr als fünfzig Personen, und wer kenne schon jeden Mann an der Feuerspritze?
Nur Monsieur Löwen hatte versichert, daß ein Fremder hinter der Bühne sofort erkannt werden würde. Natürlich, es seien sehr viele Menschen im Theater und auch immer wieder Neulinge, aber einen Fremden erkenne man schon daran, daß er sich unsicher bewege. Das fand Wagner nicht besonders überzeugend.
Auch beim Ballett und im Orchester gebe es immer wieder Neulinge, erklärte Mademoiselle Mercour. Wenn man sich über jedes Gesicht Gedanken machen wolle, habe man viel zu tun. Nein, empörte sich Klose, einer der Feuerwächter, natürlich seien die Türen nicht versperrt. Es sei ein Gebot des Rates, daß während der Vorstellungen alle Türen des Hauses
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