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Lorettas letzter Vorhang

Lorettas letzter Vorhang

Titel: Lorettas letzter Vorhang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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Schließlich war auch Madame Hensel bereit gewesen, sich seinen Fragen zu stellen. Sie trug ein einfaches fliederfarbenes Kleid, auf dem sorgfältig frisierten Haar lag ein Hauch schwarzer Spitze, ihr blasses Gesichtwar ungeschminkt. Die Schatten unter ihren Augen ließen das kühne Gesicht noch dramatischer erscheinen. Es fiel ihr schwer, über den gestrigen Abend zu reden, ob wegen des Mordes oder weil ihr mitten in der Szene der Text abhanden gekommen war, der wahr gewordene Alptraum jeder Schauspielerin, war nicht zu erkennen. Aber dann betrat Seyler den Raum, um ihr beizustehen, wie er sagte, und sie begann zu berichten.
    Ihr sei unwohl gewesen gestern, denn sie sei am Tag zuvor gestolpert und habe sich dabei den Arm verletzt. Die Schmerzen hätten ihre Konzentration so beeinträchtigt, daß geschah, was ihr noch nie geschehen war: Sie habe plötzlich den Text vergessen, ein unvorstellbarer Schock. Das Theater war besucht wie selten, und sie stand auf der Bühne, stotternd wie die untalentierteste Anfängerin, nie wieder wolle sie so etwas erleben. Loretta habe ihr gleich eingeholfen, zunächst, aber dann, als sie das zweite Mal Hilfe brauchte, direkt nach der Szene, in der so heftig getrommelt wurde, sei es in der Kulissengasse stumm geblieben.
    Sie fühlte sich einer Ohnmacht nahe, obwohl es nicht ihre Angewohnheit sei, ohnmächtig zu werden, aber plötzlich hörte sie von der anderen Seite ein Flüstern, flatterte eilig quer über die Bühne, und da stand Rosina und half ihr aus. Aber sie habe sie schlecht verstehen können, die Erregung über ihr unverzeihliches Versagen rauschte in ihren Ohren wie ein Orkan. Dann sei sie voller Panik von der Bühne gelaufen. Auch das könne sie sich nie verzeihen, niemals. Aber sie habe nicht nachgedacht, ihr Körper habe einfach gehandelt, und dann, ja, und dann, als sie in die Kulissengasse sprang, sei sie gestolpert.
    «Und da habt Ihr das erste Mal geschrien?» fragte Wagner.
    Sie nickte. «Ich war so erschrocken. Und dann empört. Ich dachte, ich sei über ein Bündel Kleider oder einen umgestürzten Korb mit Kostümen gestolpert, und es ist ein striktes Gesetz, daß in den Kulissengassen nichts, aber auch gar nichts herumliegen darf. Man muß ja schnell und ungehindert von der Bühne abgehen, und wenn man dabei in die dunkleren Gassen tritt, sieht man zunächst sehr schlecht.» Dann habe sie auf dem Boden gesessen, sich den schmerzenden Knöchel gerieben und plötzlich gemerkt, daß das kein Kleiderbündel war. Es sei Loretta gewesen, ihre Augen, so ein Grauen, sie habe sofort gewußt, daß diese Augen einer Toten gehörten. Dann hörte sie sich schreien und sei doch noch ohnmächtig geworden. Nur für einen Augenblick, aber als sie wieder erwachte, seien schon viele Leute um sie herum gewesen, und den Rest kenne er ja selbst.
    Madame Hensel tupfte mit einem zierlichen Tuch ihre Augen, und Wagner, der sie aufmerksam wie ein Falke beobachtete, sah, daß es eine echte Träne war, die sie fortwischte.
    «Ich muß gestehen», fuhr sie mit einem kleinen Seufzer fort, «als ich wieder zu mir kam, spürte ich zuerst Zorn. Ich war plötzlich sicher, Loretta habe mir einen widerwärtigen Streich gespielt. Ihr habt es vielleicht schon gehört, wir   …» Sie stockte und räusperte sich dann energisch. «Wir waren nicht gerade Freundinnen, und ich war nicht einverstanden, als sie eine Hauptrolle bekam. Eine kleine, aber doch sehr verantwortungsvolle Arbeit, und ich glaube nicht, daß sie dem gewachsen ist. Gewachsen war.»
    Wagner nickte und legte sein Gesicht in mitfühlend verständnisvolle Falten. Madame Hensel, ermuntert und auch ein wenig getröstet durch diesen so unerwartet zartfühlenden Weddemeister, wollte weiterreden, aber da legte Seylerihr die Hand auf die Schulter und knurrte, man möge Madame nun endlich in Ruhe lassen. Er sehe doch, der Schock habe ihre Nerven völlig ermattet.
    Wieder nickte Wagner verständnisvoll. Wenn es nötig war, würde er schon eine Gelegenheit finden, noch einmal mit der Dame zu reden. Ohne ihren Beschützer.
    Die Befragungen hatten länger gedauert, als er angenommen hatte, deshalb schickte er die Musiker fort und bestellte sie für morgen vormittag neu. Vielleicht erfuhr er dann endlich eine kleine Neuigkeit.
    Er verließ das Theater, verstaute die Zettel, die er aus einem großen Bogen geschnitten und bei den Befragungen dicht beschrieben hatte, in seiner Rocktasche. Vieles würde er später kaum mehr entziffern können. Sie hatten

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