Lorettas letzter Vorhang
unverschlossen blieben, damit im Falle eines Feuers jedermann schnell flüchten könne. Nein, das hörte Wagner von jedem zweiten, es sei dem Publikum nicht erlaubt, auf oder hinter die Bühne zu kommen. Schon gar nicht während der Vorstellung. Das möge in manchen Hoftheatern immer noch Sitte sein, weil es den Herren dort nicht um die Kunst, sondern um die Nähe zu den Damen gehe oder auch zu den jüngeren Herren, das sei bekannt. Aber in diesem Theater gehe es um die Kunst. Hier dulde man keine Störungen, das Publikum habe im Zuschauerraum zu bleiben.
Das letzte hatte ihm Löwen gesagt, und der künstlerische Direktor, bei der Befragung eindeutig der nervöseste und ungeduldigste von allen, hatte sich dabei sehr erregt. Was kein Wunder war, denn sein Anliegen, mit dem bürgerlichen Theater auch die immer noch von vielen als ehrloses Volk beargwöhnten Komödianten als bürgerliche Schauspieler zu etablieren, hatte mit dem Mord in den Kulissen einen argen Rückschlag erlitten.
Löwen war aber nicht erst durch Lorettas Tod am Rande seiner Hoffnungen. Wie groß waren die Pläne gewesen, als die zwölf Hamburger sich zusammentaten und ihn engagierten, dieses Theater zu eröffnen. Schauspiele wollten sie zeigen, nichts als Schauspiele, die die Bildung und den Charakter der Zuschauer beförderten und erhoben. Eine Schule für die Darstellungskunst sollte eingerichtet werden, in der das natürliche Agieren und Sprechen gelehrt wurde, die englische Art, nicht mehr die pompösen, gestelzten Gesten, das exaltierte, grimassenreiche Deklamieren der Franzosen und Italiener. Und weil man sicher war, daß dieses Theater viele Jahrzehnte Bestand haben würde, war auch eine Kasse für die Versorgung der Alten geplant, die, wenn sie nicht mehr auftreten konnten, bisher fast immer in Hunger und Elend endeten. Und nun? Nun konnten kaum die Gagen bezahlt werden, auch die Pacht war seit Wochen überfällig. Das Publikum, dachte er, war einfach zu dumm, war nicht bereit, zuzuhören und nachzudenken. Das Publikum wollte sich nur amüsieren. Man würde wieder einen Hanswurst engagieren müssen.
Das werde der Anfang vom künstlerischen Ende sein, dachte Löwen, während Wagner wieder ein paar Worte auf einen Papierbogen kritzelte. Vielleicht war Seylers Idee, über die er nur gelacht hatte, doch nicht so schlecht. In Eimsbüttel stand ein Garten zur Pacht. Das Dorf war zwar nicht mehr als eine Handvoll Höfe und Katen inmitten sanfter Wiesen. Aber die schöne, mit von Erlen und Linden gesäumten Bächen und Teichen geradezu liebliche Landschaft kam jetzt in Mode. Wer immer in Hamburg und Altona Kutsche oder Reitpferd, aber keinen eigenen Garten besaß, pilgerte an sonnigen Sonntagen in das Dorf bei der dänischen Grenze. Noch gab es keinen Gasthof, aber wenn man einen kleinen Pavillon errichtete, ganz leicht und nur aus Holz, das machte nicht viel Kosten, und dazu womöglichnoch eine Kegelbahn baute – das würde endlich Geld einbringen, um die marode Theaterkasse aufzubessern. Er wollte die Idee unbedingt noch einmal mit Seyler besprechen, schließlich waren die lästigen Finanzen sein Metier. Er, Löwen, war nur für die Kunst zuständig.
Aber das erzählte er Wagner nicht, das ging einen Weddemeister auch nichts an. Der erzählte es nur in der Stadt herum, und der Erstbeste kam ihm zuvor, und wohin dann mit der Kegelbahn? Es ging, so fand er, Wagner erst recht nichts an, daß das Theater in enormen finanziellen Nöten war und daß Seyler heute morgen den Tod von Mademoiselle Grelot zutiefst bedauert, aber nahezu im gleichen Atemzug angeordnet hatte, man möge die Kasse nur gleich öffnen und Billetts im voraus verkaufen. So ein Skandal locke ja stets die Massen und gewiß nicht nur den Pöbel. Was entsetzlich und gegen alle Humanität sei, aber doch eine Tatsache, man dürfe das Publikum nicht enttäuschen. In der nächsten Woche werde wieder gespielt.
Dann war er davongegangen, um sich mit seinen Compagnons zu treffen. Auch wenn das Theater nun einige Tage geschlossen bleibe, müsse man die Lage klug wenden, hatte er noch gesagt. Was alles und nichts bedeuten konnte, aber Löwen hatte ihm nachgesehen und einen bitteren Geschmack verspürt. Seyler hatte von Trauer und tragischem Tod gesprochen, der schwer gesühnt werden müsse, aber seine Miene war dabei so heiter, sein Gang so beschwingt gewesen, als habe man ihm gerade die sächsische Staatskasse geöffnet.
Von alledem erfuhr Wagner nichts, doch sein Kopf brummte auch so.
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