Lorettas letzter Vorhang
nach seinem Auftrag gefragt habt, ich hätte das völlig vergessen.»
«Aber nach seinem Namen habt Ihr doch gefragt?»
Löwen zog beschämt die Schultern hoch. «In meinem Kopf summt es wie in einem Bienenkorb zur Lindenblüte. Es ist so furchtbar. Die arme Loretta. Zuerst dieser schreckliche Tod, und nun will sie niemand haben.»
«Haben? Was meint Ihr damit?»
«Haben eben. Ihr könnt auch sagen: Niemand will ihr das einzige Stück Erde geben, das wir alle am Ende brauchen.»
Es kämen nur zwei Friedhöfe in Frage, erklärte er, nämlich der bei der Gertrudenkapelle im Jakobi-Kirchspiel und der bei St. Annen nahe der Bastion Nicolaus. Wirklich hübsche Plätze, wenn man bedenke, daß sie den Armen vorbehalten seien. Obwohl der von St. Annen bei aller gutenAussicht ein wenig nah am Wasser sei. Wenn wieder eine hohe Flut komme – aber das sei nun sowieso eine müßige Sorge.
«Daß sie eine Komödiantin war», fuhr er fort, «ist es nicht allein. Auf den Armenfriedhöfen übt man sich da auch in dieser Stadt schon ein wenig in Toleranz. Aber Loretta war eine einfache, hier noch ganz unbekannte Komödiantin, vor allem aber eine Ermordete und zudem, so sagte man mir, von zweifelhaftem Ruf, wovon ich allerdings nichts weiß. Einer der Pastoren von St. Annen soll gesagt haben, wer so einen Tod erleide – die Herren wissen sich immer sehr gewählt auszudrücken –, müsse Verbindung zu schlechter Gesellschaft gehabt haben, trage ergo selber Schuld. Hat er die Geschichte vom ersten Stein, den man in solchen Fällen werfen soll, vergessen? Egal, sie wollen unsere Loretta nicht. Selbst wenn niemand etwas dagegen hätte, unsere berühmte Henselin in St. Michaelis zu beerdigen.»
Löwen kicherte, was Madame Hensel, die in diesem Augenblick die Garderobe betrat und die letzten Sätze sehr gut verstanden hatte, absolut unpassend fand. Ihr Blick schoß auf Löwen zu wie ein vergifteter Pfeil.
Die Schrecken der vergangenen Nacht waren noch in ihrem Gesicht, inzwischen allerdings zu schwelendem Zorn gewandelt. Glück für Löwen, daß sie von Mareike abgelenkt wurde, die ihr wie stets einem Hündchen gleich gefolgt war. Das Mädchen, allein schon wegen seines Berufs von beachtlicher Ordnungsliebe, schob mit einem kräftigen Knall die Schublade von Madame Hensels Garderobentisch zu.
«Meine Schublade», sagte die Henselin, und noch einmal, allerdings sehr viel lauter: «Meine Schublade?! Wie könnt Ihr es wagen, meine Schublade anzurühren?»
Rosina hielt Löwen für eine zwar nervöse, aber sanfte Natur. Das erstaunliche Gebrüll, mit dem er sich nun die Anschuldigung verbat, ihre Schublade durchsucht zu haben, die ganz gewiß das letzte war, was ihn in diesen Tagen und überhaupt an allen Tagen interessiere, übertönte das klirrend anklagende Zetern der ersten Dame des Hauses um ein Vielfaches.
DONNERSTAG, DEN 8. OKTOBER, MITTAGS
Claes Herrmanns hatte sich umsonst gesorgt. Zwar schien jeder zu wissen, daß er und Anne gestern abend im Theater gewesen waren und sogar die Tote gesehen hatten. Auch herrschte in Jensens Kaffeehaus das übliche Gedränge nach Börsenschluß, und der Wirt flitzte pausenlos mit einem schwerbeladenen Tablett zwischen den Tischen herum, um die Wünsche der Männer nach Kaffee mit den verschiedensten Gewürzen und Beimischungen, nach Tee, Tabak, Pfeifen und den neuesten Zeitungen aus London, Genua, Paris oder Amsterdam zu bedienen. Aber das Interesse am Tod im Theater verging schnell, nachdem Claes versichert hatte, es sei in der Tat ganz und gar unblutig zugegangen, und das Gerücht, die junge Komödiantin habe bis auf ein Paar kostbare Ohrringe aus Perlen und Lapislazuli völlig nackt in den Kulissen gelegen, sei frei erfunden.
An einem der Billardtische wurde Lorettas gewaltsames Ende zwar zum Anlaß genommen, wieder einmal und bei ziemlich grobem Gelächter über den guten oder verderblichen Einfluß der Komödien zu debattieren, aber das Ende der Stürme im besonderen und die ungebärdige Natur im allgemeinen beschäftigte die meisten noch sehr vielmehr. Der Sommer war in diesem Jahr kurz gewesen; als er zu Ende ging, die Ernte war noch nicht ganz eingefahren, hatte im Osnabrücker Land und im Westfälischen die Erde heftig gebebt, und dann begannen die Stürme, die bis zum Anfang dieser Woche angehalten hatten. Noch im Solling fällten sie 30 000 Klafter Holz, und es war nur Glück, daß der Wind von Nordost kam. Wäre er von Nordwest gekommen, wie im Oktober
Weitere Kostenlose Bücher