Lorettas letzter Vorhang
wandte Madame van Witten ein, eine honorig wirkende reife Dame in grauer Seide, die aber sehr viel mehr las und von Abenteuern träumte, als sie ihren Gatten jemals wissen ließ. «Und soviel ich weiß, weil die Menschen darauf eben nicht selig waren, sondern außerordentlich unselig. Das reinste Sodom.»
Dazu lächelte sie ganz unpassend, und nun entbrannte ein Streit, allerdings nur ein kleiner, freundschaftlicher, ob es sich bei dieser Insel nicht um das geheimnisvolle Atlantis gehandelt habe und ob das vielleicht die gleiche Insel sei, auf der einst aus Seligkeit Sodom geworden sei, was leider leicht passieren könne.
Schließlich machte Agnes der Debatte ein Ende. «Verzeiht, meine Lieben», rief sie plötzlich, «ich finde das auch sehr ernsthaft, ganz gewiß auch sehr wichtig für die Wissenschaft und die Beförderung unserer Moral, aber mir ist gerade etwas eingefallen. Etwas ungemein Komisches. Magdalena, du erinnerst dich gewiß: Es gibt da dieses alte Buch, es heißt
Utopia
, das vergesse ich niemals, was immer das bedeuten mag. Ich weiß nicht, wer es geschrieben hat, wohl irgendein frommer Mann in England vor sehr langer Zeit, und es berichtet auch von einer Insel, auf der die Menschen in allem auf das Allerbeste zusammenleben. Sie bekamen alles, was sie brauchten, allerdings waren sie gräßlich genügsam und taten einander doch niemals irgend etwas Schlechtes oder Nachteiliges an. Ein Wunder, aber so ist es dort aufgeschrieben. Das hat mir mein Vater jedenfalls später erzählt. Vielleicht ist das diese selige Insel, die Lorenz sucht, wer weiß. Aber dieses Buch ist ziemlich alt, und – erinnerst du dich nicht, Magdalena? Es war in dem Sommer, in dem du und deine Mutter bei uns zu Besuch wart. Als wir uns das letzte Malsahen, bis du jetzt wieder nach Hamburg gekommen bist. Sieh mich nicht so erschrocken an. In dieser alten Geschichte war ich der Tunichtgut. Mal wieder. Du warst ja immer bewundernswert brav.»
Magdalena, die bisher, wie es ihre Art war, mehr zugehört als geredet hatte, obwohl ihr Riechfläschchen, ein erstaunlicher Harlekin mit einer Katze auf dem Rücken und einer Maus in der Hand, großen Zuspruch gefunden hatte, nahm bedächtig einen Löffel von den mit gehackten Walnüssen bestreuten, eingelegten grünen Pflaumen.
«Ja», sagte sie dann, «jetzt erinnere ich mich. Aber ich weiß nicht mehr so genau, worum es ging. Es ist so lange her, daß wir Kinder waren.»
«Aber du mußt dich erinnern! Dieses Buch war sehr kostbar, ganz alt und in goldgeprägtes Leder gebunden, wie solche Bücher eben sind. Papa hatte es vom sächsischen Gesandten ausgeliehen und gewiß tausend Eide geschworen, es unversehrt zurückzugeben. Nun», sie kicherte vergnügt, «uns gefiel das Buch auch sehr gut, allerdings wegen des hübschen Bildes auf der ersten Seite. Es zeigte eine Insel in einem breiten Strom, sie war mit Türmen und großen Häusern bebaut, und vor der Insel kreuzte ein Schiff. Es war ein so stolzes Schiff. Ich hätte alles gegeben, um damit fortzureisen, und ich sehe es vor mir, als hätten wir erst gestern die große Schere aus dem Kontor stibitzt und das Bild ausgeschnitten. Aber ich bin eine schlechte Gastgeberin, ich rede die ganze Zeit. Erzähl du weiter, Magdalena, erzähl, was unsere Strafe dafür war. Es ist zu komisch!»
«Inzwischen ist so vieles geschehen, Agnes. Ich weiß es wirklich nicht mehr genau.» Magdalena lächelte ihrer Cousine, die eine solche Kinderei für ein wichtiges, berichtenswertes Ereignis in ihrem Leben hielt, nachsichtigzu. «Du erzählst auch viel lebendiger als ich. Erzähl nur weiter, wir hören dir alle gerne zu.»
«Nun gut. Also stellt euch vor, was die strenge Strafe meines guten Papas war. Solange Magdalena zu Besuch war, durften wir kein Buch berühren.» Sie lachte schallend, und plötzlich sah Anne hinter der makellosen, immer etwas gezierten Agnes das koboldhafte Kind, das sie einmal gewesen sein mußte. «Ich bin ein Dummkopf. Natürlich könnt ihr nicht richtig mitlachen, ihr wißt ja nicht, was das bedeutete. Es war wunderbar. Mein Hauslehrer, ein milchbärtiger Kandidat der Theologie, in den ich auch nicht eine Sekunde verliebt war, wagte während der ganzen Zeit nicht, mich ein Buch anfassen oder auch nur ansehen zu lassen. So war es ihm ja befohlen worden. Papa hatte natürlich die Bücher in seiner Bibliothek gemeint, aber der arme kleine Lehrer glaubte, Bücher jeglicher Art. Wir haben ihn nicht aufgeklärt und waren in all den
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