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Lorettas letzter Vorhang

Lorettas letzter Vorhang

Titel: Lorettas letzter Vorhang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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und der Stöpsel war ein kleiner brauner Zweig mit einem smaragdgrünen Blatt. Bei der sogleich folgenden gegenseitigen Begutachtung aller verfügbaren Riechfläschchen – nur Anne konnte nicht mithalten, weil sie nie eines bei sich trug – war die Begeisterung groß. Diesmal wurde Agnes allerdings überflügelt. Ihre wirklich possierliche Porzellanente mit den vier Küken, wovon eines sich auf den Rücken der Mutter kuschelte, und dem Schilfbündel als Halterung für den vergoldeten Stöpsel rief allgemeines Entzücken hervor, aber Mademoiselle Bauers Fläschchen blieb dennoch Sieger: Es stellte eine kaum fingergroße, anmutige Dame in einem spitzenbesetzten, geblümten Kleid und mit einem Fächer dar, was noch nicht besonders war. Aber die Dame trug auch ihr Hündchen auf dem Arm, ein schwarzweißgetupftes Geschöpf mit breit grinsendem Gesicht, dessen Kopf, und das war das Unerhörte, als drehbarer Verschluß des Flakons diente. Obwohl keiner der anwesendenDamen nach einer Ohnmacht zumute war, wollte jede das Fläschchen öffnen und daran schnuppern. Agnes hielt es Carlino vor die faltige Nase, doch der Mops hatte keinen Sinn für seinen scharfriechenden Artgenossen aus Porzellan und wandte sich beleidigt schnaufend ab. Was auch alle sehr entzückend fanden.
    Das war das Signal für die Beschäftigung mit den großen Platten voller Mandelmaronen, Zimtwaffeln, mit Muskat und Branntwein gewürzten Englischen Kringeln oder kleinen, mit Zibeben bestreuten Kuchen aus Blätterteig, den Schalen voll sahniger Cremes, Früchten und Weinmus. Während Anne noch überlegte, daß so ein Riechfläschchen im Prinzip ziemlich überflüssig, aber doch ein hübsches Spielzeug sei, hob Mademoiselle Bauer ihr spitzes kleines Kinn und erzählte von der neuesten Marotte ihres Bruders.
    «Lorenz», erklärte sie, «sucht Compagnons für ein äußerst kurioses Unternehmen. Wegen des Geldes natürlich», fügte sie trocken hinzu, «sonst würde er es am liebsten ganz allein tun. Mein Bruder liebt es nicht, Ruhm zu teilen, mein Bruder   …»
    «Ruhm ist schön und gut», warf Agnes ein, der das delikate Verhältnis zwischen den Geschwistern Bauer bis zur Ermüdung vertraut war, und lud geschickt ein sahniges Törtchen auf ihren Teller, «aber erzähl uns doch zuerst, womit er diesen Ruhm erlangen will.»
    «Natürlich. Entschuldige, Agnes. Mein Bruder hat sich im Kontor gelangweilt und sich an seine Griechischstunden am Johanneum erinnert. Dort hatte ihm ein offenbar schwärmerischer Lehrer von der Überzeugung irgendeines alten Philosophen erzählt, es gäbe weit im Ozean eine Insel der Seligen, auf der die Menschen rein und unschuldig seien und in stetem Glück lebten.»
    «Wahrscheinlich», murmelte Madame Bilsen, die aus einer großen Familie von Reedern und Tranhändlern stammte und stets praktisch dachte, durch ein Stück mit Orangensirup getränkter Waffel, «wahrscheinlich hat er das mit der Bibel verwechselt, und was aus dem Paradies geworden ist, wissen wir alle.»
    Mademoiselle Bauer kicherte. «Vielleicht. Aber er sagt, diese Insel sei ein hochinteressantes Experiment. Es sei wie in dem Roman von Monsieur Rousseau, der seinen Emil, das arme Kind, auch ganz natürlich aufwachsen lasse. Die Wissenschaften, sagt er, seien bislang unterschätzt worden, und es sei eine edle Aufgabe, sie zu befördern.»
    «Und nun will er diese Insel suchen?» Anne begann den Nachmittag – und auch Mademoiselle Bauer – interessant zu finden.
    «Unbedingt. Er ist ganz verrückt danach. Mein Vater überlegt schon, ihn zu enterben, was natürlich nicht geht, weil es eine Schande für die ganze Familie wäre. Bei uns ist noch nie jemand enterbt worden.»
    «Gewiß, Henny.» Mademoiselle Stollberg sah ihre Freundin und, wie sie sehr heimlich hoffte, zukünftige Schwägerin streng an. «Aber dein Bruder ist ein guter Kaufmann und kein Schwärmer. Weiß man von der Insel denn tatsächlich nur durch diesen alten Philosophen?»
    «O nein, man hat die Insel immer wieder gesucht. Zuletzt, sagt Lorenz, vor etwa vierzig Jahren. Aber er hat eine Karte, die ist kaum zehn oder zwölf Jahre alt, und auf ihr ist die Insel nur einige Grad westlich von Ferro verzeichnet. Aber mein Vater sagt, da habe sich einer an der Kartenzeichnerei versündigt, denn dort, hinter den Kanarischen Inseln, sei nichts als Wasser bis zum spanischen Vizekönigreich Brasilien.»
    «Aber diese Insel, von der dein Bruder da phantasiert,ist doch schon vor Urzeiten untergegangen»,

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