Lorettas letzter Vorhang
zwischen deren Zeilen allerdings ausschließlich von den Lasten der Ehe zu lesen war. Und dann dachte sie an Jane, die Wäscherin ihrer Familie auf Jersey. Auch Jane hatte seit ihrer Kindheit gestottert und unter dem Gespött der Leute im Ort gelitten. Auch sie hatte plötzlich aufgehört zu stottern, allerdings nicht nach der Hochzeit, sondern wenige Tage nachdem ihr Ehemann, der seine beachtlichen Fäuste nicht nur für Schaufel und Bierkrug benutzt hatte, von einem Mühlstein erschlagen und begraben worden war.
Lukas Blank hatte sich vor dem Portal von St. Petri nur mit einem verstohlenen Nicken verabschiedet und war in weniger als einer Minute in der Menge auf der Marktstraßeverschwunden. Rosina folgte ihm langsam. Die Seitenkapellen der großen Kirchen und des Domes, dachte sie, sind die besten Plätze für ein unauffälliges Treffen. Wie viele heimliche Paare mochten einander dort schon ihre Liebe geschworen und ein Gebet um eine glückliche Zukunft gesprochen haben? Sie selbst hatte sich in diesen Kapellen leider nur zu sehr viel betrüblicheren Anlässen verabredet. Doch nun war es höchste Zeit, ins Theater zu gehen. Wenn sie Glück hatte, war niemand in der Garderobe, und sie konnte gleich nach dem Buch suchen. Der Gedanke, jemand könnte es zufällig vor ihr finden, beunruhigte sie plötzlich sehr. Warum eigentlich? Was war schlecht daran, wenn nicht sie, sondern irgend jemand anderer Lukas’ Eigentum fand und ihm zurückgab?
Nichts, sagte ihr Verstand. Viel, sagte ihr Gefühl, denn irgend etwas stimmte da nicht. Rosina war verwirrt. Was sollte sie von Lukas halten, von seiner großen Trauer, von der Geschichte mit dem Buch seines Vaters? Warum hatte er Loretta so ein Buch gegeben? Wozu? Was war es überhaupt für eines? Der Antwort auf diese Fragen, so schien ihr nun, war er geschickt ausgewichen. Loretta war nicht dumm gewesen, aber für Bücher hatte sie sich nur interessiert, wenn darin Schauspiele standen, in denen sie eine Rolle für sich zu finden hoffte. So eines würde Lukas’ Vater kaum besessen haben. Und warum wickelte man ein Buch in Ölpapier anstatt in ein einfaches Leintuch? Warum mußte es so geschützt werden? Wovor?
Sie wollte ihm so gerne glauben, weil sie dann nicht die einzige wäre, die um Loretta trauerte. Doch so, wie ihr Körper auf der Bank in der Kapelle vor seinem eindringlichen Flüstern abgerückt war, spürte nun auch ihr Herz den Wunsch nach Distanz. Ein Gefühl gegen alle Vernunft, aber gerade das war ja oft das Wesen der Gefühle,und sie, die Vernünftige, hatte gelernt, auf ihre Gefühle zu hören. Natürlich war es möglich, daß er Loretta so sehr geliebt hatte, wie er sie glauben machen wollte. Das hatte sie bis zu diesem Treffen auch angenommen, war sein jämmerlicher Zustand gestern im
Bremer Schlüssel
nicht der beste Beweis dafür? Dennoch konnte sie ihm nicht glauben. Sie hatte Worte gehört, eine Rolle gesehen. Doch obwohl seine Augen feucht geworden waren, wußte sie, daß er nicht wirklich trauerte, so wie man um einen geliebten Menschen trauert. Vielleicht war ihr Urteil vorschnell und ungerecht, vielleicht war er gar nicht in der Lage, tiefer zu fühlen, vielleicht hatte er auch nur gelernt, seine wahren Gefühle zu verbergen. Wurden dazu nicht die meisten Männer erzogen? Aber warum gab er sich dann solche Mühe? Weil es gerade in Mode kam, daß auch Männer Gefühle und Tränen, ihre empfindsame Seite zeigten? Gleichgültig, warum, den winzigen und doch deutlich falschen Ton in seiner Stimme hatte sie sich nicht eingebildet. Mit Lukas Blank stimmte etwas nicht.
Wind kam auf und zerrte an ihren Röcken und an ihrem Schultertuch, ein frischer Wind, der sie wie ein Schubs aus ihren Gedanken holte. Also hörte sie auf zu grübeln, schritt schneller aus und beeilte sich nun wirklich, ins Theater zu kommen. Wenn sie das Buch gefunden hatte, würde sie mehr wissen. Denn natürlich wollte sie es nicht in dem Ölpapier lassen, sondern sehr genau untersuchen.
Der hintere Eingang war nicht verschlossen, also mußte jemand dasein. Sie öffnete die Tür zur Garderobe, doch die war leer. In den nächsten Tagen würde es keine Aufführung geben. Am Sonnabend und Sonntag blieben die Theater in Hamburg wie zu allen anderen christlichen Feiertagen stets geschlossen. Auch die Proben waren bis zum Montag ausgesetzt. Normalerweise wären trotzdem einigeaus dem Ensemble hiergewesen, die miteinander Texte lernten, Dialoge oder Szenen übten, von Monsieur Ekhof
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