Lorettas letzter Vorhang
Wochen vom Psalmen- und Sprüchelernen befreit. Ach», sie seufzte wohlig, noch immer glücklich über den lange vergangenen Streich, «so hatten wir doch schon für einige Wochen unsere eigene Insel der Seligen, nicht wahr, Magdalena?»
Ihre Cousine schob die letzte sirupschwere Pflaume über den Teller und lächelte milde. «Ich erinnere mich auch daran, meine Liebe, daß ich dich seinerzeit sehr gebeten habe, den bedauernswerten jungen Mann nicht so hinters Licht zu führen. Du kennst mich. Ich glaube, daß die Seligkeit genau in den Psalmen und Sprüchen liegt, die wir damals versäumten zu lernen.»
«Du bist eine Spielverderberin», rief Agnes, immer noch lachend, und griff nach der Teekanne. «Aber sei getrost, ich habe später, als du mit deiner Mutter nach Köln zurückgekehrt warst, alles nachholen müssen. MeineSeele hat nichts verloren und keinen Schaden genommen.»
«Für Mrs. Bellham warst du in eurer Kinderzeit gewiß eine schwere Prüfung, Agnes», sagte nun Mademoiselle Bauer. Sie hatte Magdalenas schmal lächelnde Lippen bemerkt und fand, irgend jemand müsse ihr und ihrer ein wenig anstrengenden, aber unbedingt respektablen Rechtschaffenheit beistehen.
«Das war ich ganz gewiß! Aber wir haben uns ja nur selten gesehen. Und unser Vorsatz, einander fleißig Briefe zu schreiben, hielt nicht lange. Um ehrlich zu sein: mein Vorsatz. Wann immer ein Bote oder ein Wagenzug aus unserer Handlung nach Köln ging, brachte er auf dem Rückweg einen Brief von Magdalena. Und immer vergaß ich, bei der nächsten Gelegenheit eine Antwort zurückzuschicken. Ich hoffe, meine Liebe, du hast mir das verziehen. Ich verstehe gut, daß später, als wir erwachsen wurden, keine Briefe mehr von dir kamen.» Sie griff über die nun fast leeren Kuchenplatten und strich über Magdalenas Hand. «Ich rechne es dir um so höher an, daß du mir immer noch die gute alte Magdalena bist, stets geduldig mit deiner untreuen Cousine. Der liebe Robert hat mir verraten, daß du ihn sehr gedrängt hast, zu uns nach Hamburg zu reisen.»
«Wie ich schon sagte», Magdalena lächelte Agnes sanft an, «wir waren Kinder, und es ist lange her.»
Alle waren sehr gerührt. Doch dann griff Mademoiselle Stollberg den nur
en passant
erwähnten Monsieur Rousseau auf. Sein letztes Werk, sagte sie, die Geschichte von der Erziehung des Emil, sei außerordentlich interessant und, obgleich recht umfänglich, eine bemerkenswerte Lektüre. Bisher habe sie immer nur Männer darüber reden hören, und sie sei oft ganz anderer Meinung. Bei diesem Bekenntnis einer eigenen Meinung errötete sie leicht,aber die zustimmend nickenden Gesichter der Teerunde machten ihr Mut.
«Ich dachte», fuhr sie also fort, «wenn wir uns einmal in der Woche treffen würden, wäre es doch recht anregend, sich darüber zu unterhalten. Es geht ja um die Erziehung, und die obliegt uns Frauen, auch wenn die Männer ständig darüber reden, als hätten sie sie selbst erfunden.»
«Eine formidable Idee!» rief Mademoiselle Bauer und klatschte vor Begeisterung über die unerwartet kämpferischen Worte ihrer Freundin in die Hände. Wenn man sich regelmäßig träfe – es müsse ja nicht gleich in diesen unkleidsamen blauen Strümpfen sein, wie es jener berüchtigte Damenzirkel in London tue –, um über die neuesten Nachrichten und Bücher zu reden, würde das Leben ganz gewiß sehr viel anregender. Sie wolle auch schon lange einmal drüber debattieren, warum es am Johanneum immer noch keine Mädchenklassen gebe. (Hierauf zog Madame Bilsen scharf die Luft ein, was aber niemand beachtete.) «Und ganz gewiß könnt Ihr, Madame Herrmanns, etwas über Eure große Leidenschaft, das Einfangen der Blitze, berichten», fuhr Madmoiselle Bauer eifrig fort. «Oder über die neue englische Art, große Gärten anzulegen. Das interessiert mich beides ungemein. Besonders, wo man die Eremiten hernimmt, die einige englische Grafen und Barone angeblich engagieren, damit sie in den Grotten oder Ruinen hausen, die man in verschwiegenen Winkeln der Gärten extra errichtet. Ich fände es sehr angenehm, miteinander über etwas anderes zu reden als über den häuslichen Alltag, ohne daß unsere Väter, Brüder oder Gatten gleich vemeintlich noch Besseres oder Klügeres beizutragen haben. Und gewiß können wir noch die eine oder andere Dame hinzugewinnen.»
Auch dagegen hatte niemand etwas einzuwenden.
Annes Vorschlag, die Last der Gastgeberin nicht allein auf Agnes’ Schultern zu lassen,
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