Lorettas letzter Vorhang
nur große Sorge, daß meine Schwester untröstlich sein wird, wenn ich ihr gestehen muß, daß das Buch, die letzte Erinnerung an unseren verehrten Vater, durch eine Dummheit, durch meine Leichtfertigkeit verloren ist.»
Der Einfall mit Fredas Untröstlichkeit, fand Lukas später, war grandios. Auch wenn Rosina ihn danach ein wenig streng angesehen hatte, hatte sie sich doch bereit erklärt, nach dem Buch zu suchen und eine Nachricht zu schicken, sobald sie es gefunden hätte.
Als er St. Petri verließ, entdeckte er Schwarzbach in dessen Kirchenstuhl nahe der Kanzel. Jener konnte ihn in der dunklen Ecke der Kapelle schwerlich erkannt haben. Als Lukas sich im Hinausgehen noch einmal nach ihm umsah, blieb sein Blick an dem reichen, weiß und gold bemalten Schnitzwerk der Kanzel haften, an dem aus Lindenholz geschnitzten Christus inmitten seiner Apostel. Zu Jesu Füßen, das wußte er, obwohl er sie jetzt nicht sehen konnte, hatte der Holzschnitzer die vier Evangelisten gesetzt: Johannes, Matthäus, Markus und Lukas. Als er noch ein Kind gewesen war, hatte sein Vater ihm diese Figuren gezeigt und erklärt. Und dort, hatte er gesagt, der Mann an der Staffelei ist Lukas, Arzt und Reisebegleiter von Paulus, des größten aller Missionare. Er war als Maler dargestellt, so wie es die Legende ihm zuschrieb, und dann hatte sein Vater noch gesagt: Dein Namenspatron war ein kluger, demütiger Mann, der wußte, wem er zu folgen hatte, um das Heil zu erlangen. So hatte er gesagt: das Heil zu erlangen. Und: Eifere ihm nach, wähle die, mit denen du lebst und deine Geschäfte machst, sorgfältig, und du wirst zufrieden sein. War es seine Schuld, daß er keinen wie Paulus getroffen hatte? Eigentlich glaubte er nicht, daß es solche Männer noch gab, die Zeiten hatten sich geändert. Wer etwas erreichen wollte, mußte sich diesen Zeiten anpassen. Das hatte sein Vater auch gesagt, obwohl er damit vielleicht nicht das gleiche wie sein Sohn gemeint hatte. War für den Lukas der Bibel das Heil nicht auch eine Ware, ein Geschäft gewesen, wenn er sein Leben alsArzt und Maler aufgegeben hatte, um einem Missionar zu folgen? Er wandte sich abrupt ab, aber das kluge, friedvolle Gesicht des hölzernen Lukas folgte ihm noch lange und ähnelte in seiner Phantasie immer stärker dem Gesicht seines Vaters.
7. KAPITEL
FREITAG, DEN 9. OKTOBER, NACHMITTAGS
Die Damenrunde, die sich in Agnes Matthews Salon in ihrem Haus am Jungfernstieg zum Tee traf, wurde nicht, wie Anne Herrmanns befürchtet hatte, todlangweilig, sondern erstaunlich unterhaltsam. Auch fragten die Damen nur sehr diskret nach Annes Erlebnis im Theater am Abend des Mordes. Nicht weil Mord kein angemessenes Thema für einen Teenachmittag gewesen wäre, sondern weil es unmöglich war, über das Theater im allgemeinen und die Hamburger Schauspielerinnen im besonderen zu streiten, ohne womöglich Madame Herrmanns zu brüskieren. Ihre Vorliebe für die neuen Schauspiele und ihre Bekanntschaft mit einigen Komödianten waren schließlich in der ganzen Stadt bekannt. Aber den Engländern, auch das war bekannt, galt das Theater ja schon lange als ernsthafte Kunst, und deshalb sah man Claes Herrmanns’ Gattin diesen
spleen
gern nach.
Dennoch hatte der Anfang des Nachmittags absolut Annes Erwartungen entsprochen. Der Tee wurde serviert und Agnes’ neues Service sehr bewundert. Schon wieder ein Geschenk von Thomas. Ach ja. Er hatte es bei seiner letzten Englandreise im vergangenen Jahr bei einem neuen englischen Manufakteur bestellt. Wedgwood war in London schon sehr in Mode, und es war erst vor wenigen Tagen im Laderaum der
Lady of the Severn
in Hamburg angekommen. Die Kanne, unten schmal und grün, oben dick und sandfarben, bildete Blatt für Blatt, Röschen für Röschen einen Blumenkohl nach. Der Knauf auf dem Deckel war ein etwas flaches Extraröschen, und wenn Madame Bilsen auch fand, daß ein ordentlicher Blumenkohl aus
ihrem
Garten doch ein strahlendes Weiß aufweisen müsse, machte Agnes’ kostbare Neuheit großen Eindruck.
Nach gebührender Bewunderung zog Madame van Witten, die auch in solchen Dingen nicht gerne zurückstand, ihr neues Riechfläschchen hervor – leider kein Geschenk ihres Gatten, sondern nur ihrer Schwägerin, was sie aber nicht verriet. Der elegante kleine Flakon von der Porzellanmanufaktur des Braunschweigischen Herzogs in Schloß Fürstenberg zeigte die Form einer halbgeöffneten Feige, das rote Fruchtfleisch leuchtete aus der dunkelgrünen Schale,
Weitere Kostenlose Bücher