Lorettas letzter Vorhang
wußte später nicht zu sagen, warum sie nicht einfach weiter die Körbe durchsucht hatte, eilig die Gelegenheit nutzend, daß sie allein in der Garderobe war. Das Geräusch war nicht aus dem Hof oder der Garderobe der Männer, sondern eindeutig aus dem Theater gekommen. Leise öffnete sie die Tür zum Flur, der hinter die Bühne führte, schlich über den Bretterboden, vorsichtig, damit kein Knarren sie verriet. Da, wieder ein dumpfes Geräusch, noch leiser, aber doch ein Geräusch von Holz auf Holz. Es konnte nur von der Bühne kommen.
Der trübe Tag machte das Theater dunkel wie am Abend, aber Rosinas Augen gewöhnten sich schnell daran. Es roch nach Staub und Farben, als habe jemand gerade erst an den Kulissen gearbeitet. Sie schlüpfte zwischen den bemalten Leinwänden in die zweite Gasse undbeugte sich vorsichtig vor. Die Bühne war leer. Vielleicht war das Gerumpel doch von draußen gekommen, vielleicht …
Nein, da war es wieder, diesmal eher ein Schaben. Und jetzt? Waren das leise, leichte Schritte?
Rosinas Hals war plötzlich trocken und rauh. Lauf doch weg, sagte eine Stimme in ihr, diese Stimme, von der sie wußte, daß sie klug war und daß sie ihr unbedingt folgen sollte. Lauf weg. Aber sie lief nicht weg, sie stand in der Kulissengasse, starrte auf die dämmerige Bühne und wußte plötzlich, woher die Geräusche gekommen waren. Irgend jemand kroch auf der Oberbühne, auf dem Schnürboden herum. Jemand, der nicht wollte, daß er entdeckt wurde. Gott sei Dank war sie nicht allein im Theater! Monsieur Löwen saß gewiß im Direktionsbureau, oder Monsieur Seyler, vielleicht sogar beide. Sie brauchte nur laut zu rufen. Aber sie wollte wissen, wer da oben herumkroch. Und warum. Sie trat hinaus auf die Bühne und starrte aufwärts in die Dunkelheit, doch sie konnte nichts erkennen.
«Hallo», rief sie, «ist da oben jemand?»
Ihre Stimme klang fremd in ihren Ohren, trotzdem gab sie ihr Mut. Der Maschinenmeister konnte es nicht sein, der würde sich niemals so vorsichtig bewegen. Seine Tritte waren stets schwer und fest. Warum sollte ein Fremder da oben herumkriechen? Warum sollte einer, der Loretta – sie dachte den Gedanken nicht zu Ende. «Hallo», rief sie wieder, «was tut Ihr da oben? Kommt sofort herunter!»
Die Antwort war ein vorsichtiges Maunzen. Rosina atmete so erleichtert auf, als sei sie gerade von einem eisernen Korsett befreit worden. Wie dumm sie war, wie ängstlich und dumm. Natürlich war es nur eine Katze.
Aber hörten sich so die Pfoten einer Katze an? Wieder starrte sie hinauf zum Schnürboden, und nun entdeckte sie zwischen den Brettern einen Schimmer hellen Tuchs.
«Wenn Ihr nicht sofort herunterkommt, schlage ich Alarm. Dann wird Euch schon jemand herunterholen!»
«Ach, Rosina, tu das bitte nicht», piepste eine Kinderstimme, offensichtlich um Würde bemüht. «Ich komm ja schon. Nur Semiramis will nicht. Sie hat Angst, daß du uns verpetzt.»
Zwei dünne Mädchenbeine mit ehemals weißen, nun schmuddelig grauen, heruntergerutschten Strümpfen erschienen auf der Leiter, die von der Oberbühne zum hinteren Flur hinunterführte. Und dann kam, Stück für Stück, das ganze Mädchen zum Vorschein. Sie hatte ihre Röcke notdürftig hochgebunden, damit sie auf der Leiter nicht stolperte, mit einer Hand hielt sie sich beim Abstieg an den Sprossen fest, mit der anderen umklammerte sie eine dicke schwarz-weiße Katze, die ihren Unmut über diesen unbequemen Transport mit aufgeregt schlagendem Schwanz kundtat.
«Herr im Himmel», flüsterte Rosina und wußte selbst nicht, ob das ein Ausdruck von Ärger oder Erleichterung war. «Charlotte! Du hast mir einen Riesenschrecken eingejagt. Was hast du da oben gemacht? Du weißt doch ganz genau, daß es streng verboten ist, diese Leiter hinaufzusteigen. Willst du dir den …» Hals brechen, wollte sie sagen, aber das konnte sie nicht aussprechen. «Verdammt, Charlotte», rief sie wütend, «du bist ungezogen und leichtsinnig.»
«Aber Semiramis klettert immer wieder da rauf. Sie findet es schön da oben, weil sie von dort so gut auf die Bühne hinuntersehen kann. Es ist der beste Platz, noch viel besser als in der Senatsloge.» Das Gesicht des Mädchensleuchtete, als sie von Semiramis’ Freuden berichtete. Aber dann fügte sie streng hinzu: «Ich kann sie doch nicht da oben verhungern lassen.»
«Semiramis ist eine Katze, die findet vom höchsten Baum wieder herunter. Und ein paar Tage Hunger», fuhr Rosina mit einem Blick auf das
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