Lorettas letzter Vorhang
sie ein bißchen gestritten, aber ich glaube, nicht sehr. Ich saß unter der äußeren Treppe, niemand hat mich gesehen. Man lauschtnicht, wenn Erwachsene streiten. Deshalb habe ich mir die Ohren zugehalten, und Semiramis hat auch nicht zugehört. Aber es war doch sehr artig von dem Mann, daß er später noch einmal ins Theater gekommen ist. Bestimmt wollte er sich entschuldigen und versöhnen.»
«Später, Charlotte? Wann?»
«Später eben.» Sie schob nachdenklich die Unterlippe vor. «Nach der Pause.»
«Wo hast du ihn gesehen? War er etwa hinter der Bühne?»
«Natürlich
hinter
der Bühne, Rosina, sonst wäre es doch nichts Besonderes.
Vor
der Bühne sind doch alle. Ich habe es genau gesehen von oben, Semiramis auch. Er wartete in den Kulissen, obwohl Loretta doch nur eine Gasse weiter auf ihrem Platz als Einhelferin stand. Warum ist er wohl dort geblieben? Glaubst du, er wollte sie nicht bei ihrer Arbeit stören?»
«Ganz bestimmt. Stand er lange dort zwischen den Kulissen?»
Charlotte überlegte und sah sich hilfesuchend, aber vergeblich nach ihrer dicken Katze um. «Nein», sagte sie schließlich, «nicht lange. Der Baron auf der Bühne sprach nur ein paar Sätze, dann war der Mann schon wieder verschwunden.»
«Und du bist sicher, daß er nicht einfach in eine andere Gasse gegangen ist?»
«Das glaube ich nicht, er war einfach wieder weg. Ich habe natürlich nicht
genau
nachgesehen, es war ja bald Zeit hinunterzuklettern. Wegen des Balletts, ich mußte …»
«Ja, Charlotte, gewiß. Und sein Gesicht hast du genau genug gesehen, um zu erkennen, daß der Mann Lorettas Freund aus dem Hof war?»
«Ach, Rosina, was du alles wissen möchtest! Von da oben kann man doch
kein
Gesicht genau erkennen. Du weißt, wie dunkel es in den Kulissen ist, die Lichtbäume sind ja alle auf die Bühne ausgerichtet. Von oben erscheint es noch dunkler, aber ich habe seinen Rock wiedererkannt. Er ist ganz lichtblau mit silbernen Litzen auf den Ärmelstulpen, und auch seine Weste ist aus silbrig glänzender Seide. So einen Rock hat niemand bei uns. Nicht einmal Monsieur Seyler, der doch immer sehr exquisite Röcke trägt. Ach», seufzte sie, «gewiß wollte er sich mit ihr versöhnen. Er ist ein so schöner Mann, sogar größer als Monsieur Lessing, und so ein Mensch muß auch eine schöne Seele haben, sagt Mama.»
Rosina sah keinen Grund, dem Kind zu erklären, daß auch Mütter manchmal irrten oder gar logen und daß die Welt leider so einfach nicht sei.
Es dämmerte schon, als Anne Herrmanns den Salon im Herrmannsschen Hause betrat. Betty brachte gerade zwei Leuchter mit frischen Kerzen aus der Küche herauf, und Claes saß am Tisch über einen knitterigen Bogen Papier gebeugt. Er sprang auf, und nachdem Betty knicksend den Raum verlassen und die Tür hinter sich ins Schloß gezogen hatte, umarmte er seine Frau, als habe er sie seit Wochen nicht gesehen.
«Du warst lange fort», sagte er schließlich, hielt sie auf Armeslänge und betrachtete sie so genau, als könne sie sich seit dem Mittag verändert haben.
«Überhaupt nicht.» Anne lachte. «Es waren nur drei Stunden. Die Teebesuche bei Agnes dauern immer so lange. Wenn du am Hafen oder im Kaffeehaus bist, bleibst du oft sehr viel länger fort, von deinen Sitzungen in der Commerzdeputation ganz zu schweigen. Vergiß unsereAbmachung nicht. Du hast versprochen, nicht von mir zu erwarten, daß ich alle Tage von morgens bis abends im Salon eingesperrt sitze und mich mit Stickrahmen und Modekupfern begnüge. Aber, mein Lieber, heute nehme ich deine Ungeduld als ein Kompliment. Hast du irgend etwas erreicht?»
Natürlich meinte sie Neuigkeiten, die bei der Suche nach Lorettas Mörder helfen konnten, und er wußte das. Also schob er schnell die ungemütliche Erinnerung an den Anlaß jener Abmachung, nämlich seine nur zwei Abende vor der Hochzeit in Tränen aufgelöste und fluchtbereite Braut, beiseite und schüttelte den Kopf.
«Man hört nur die üblichen Bemerkungen im Kaffeehaus, und an der Börse ist es nicht anders. Alle tun so, als habe ein Mord, der im Theater geschieht, mit dem Rest der Stadt nichts zu tun. Aber sieh hier», er schob den Papierbogen über den Tisch, «das gleiche Geschmiere, das ich gestern schon fand, an der gleichen Säule in der Börsenhalle. Eine ganze Horde stand feixend davor, aber keiner kam auf die Idee, es wegzunehmen.»
Anne las das Pamphlet, es hatte fast den gleichen Wortlaut wie das erste. Nur daß diesmal auch Monsieur
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