Lorettas letzter Vorhang
kugelrunde, pausbäckige Tier fort, «würden ihr gewiß nicht schaden.»
«Aber es würde ihr keinen Spaß machen», sagte Charlotte und setzte behutsam ihre maunzende Last ab, die sofort mit großen Sprüngen aus der Gefahrenzone verschwand.
Rosinas Ärger war schnell verflogen. Sie besah sich das staubige Kind, das nun nichts lieber getan hätte, als schnurstracks seiner Katze zu folgen, und verkniff sich ein Grinsen. «Semiramis ist also oft da oben?»
«Ziemlich oft.»
«Und du leistest ihr Gesellschaft.»
Charlotte nickte ernst. «Wirst du es Papa sagen? Oder Monsieur Seyler?»
Sie war ein zartes Kind von zehn Jahren und würde einmal eine schöne junge Frau sein. Wie ihre um fünf Jahre ältere Schwester Dorothea spielte sie schon kleine Rollen in Schäferspielen und im Ballett, und jeder, der ihr zusah, war überzeugt, daß sie eine große Schauspielerin werden würde. Aber jetzt war sie nichts als ein Kind, das etwas streng Verbotenes getan hatte und dummerweise dabei ertappt worden war.
«Das müßte ich eigentlich tun.»
«Aber du wirst es nicht?»
Rosina sah die hoffnungsvollen Augen und lachte laut auf.
«Charlotte, du bist schrecklich. Niemand kann dir lange böse sein. Also gut, ich werde dich nicht verraten,wenn du mir versprichst, nie wieder da oben herumzuklettern.»
Genau das hatte Charlotte erwartet. Erwachsene wollten immer, daß man ihnen irgend etwas Unmögliches und zudem äußerst Langweiliges versprach, und zwar für immer.
«Das kann ich leider nicht», sagte sie mit zusammengezogenen Brauen. «Ich würd es gerne tun, aber es geht nicht. Wenn Semiramis da oben ist, kann ich sie nicht allein lassen. Ganz besonders abends, wenn hier unten alle so beschäftigt sind, stören wir nur, und jeder schiebt uns beiseite. Neulich ist Mareike ihr sogar auf die Pfote getreten. Da oben haben wir unsere Ruhe, den besten Platz und sind niemandem im Weg. Außerdem ist es ganz ungefährlich.»
Schließlich sei sie kein kleines Mädchen mehr, sondern eine Tänzerin und Schauspielerin. Sie kenne sich da oben gut aus, und wenn die Seile bewegt würden für die Soffitten oder die Flugwerke, sei sie nie im Weg. Auch Semiramis nicht. Sie habe dort eine Ecke gefunden, wo der Maschinenmeister sie nie auch nur sehen könne. Wenn Rosina wolle, werde sie ihr die Stelle zeigen.
«Ich bin leise und ganz unbewegt, wie eine Spinne. Am schönsten ist es während der Vorstellung. Von oben sieht alles ganz anders aus, wie in einem großen Puppentheater, und das gefällt mir sehr gut. Warum siehst du mich so seltsam an?»
«Tue ich das? Verzeih. Nun, ich hoffe, du bist klug genug, das nicht vor deinem Vater, Monsieur Löwen oder gar Madame Hensel zu wiederholen. Das Puppentheater ist immer noch eine böse Konkurrenz für uns. Aber sag mal, wenn du manchmal sogar während der Vorstellung dort oben bist, warst du auch …» Rosina stockte. Wie fragte man ein Kind, ob es einen Mord beobachtet hatte?
«Du willst wissen, ob ich auch vorgestern abend dort war, als jemand Loretta getötet hat?»
Rosina nickte zögernd. Womöglich waren manche Kinder unkomplizierter, als die Erwachsenen dachten.
«Ja», fuhr Charlotte fort. «Ich war oben, Semiramis wollte – es ist ja egal, wir waren beide oben, und Semiramis ist auch dort geblieben, aber ich bin runtergeklettert, als die Trommel ganz besonders laut geschlagen hat. Ich mußte ja nach dem Stück noch tanzen, und es war höchste Zeit, mich umzukleiden.»
«Wann, Charlotte? Wann bist du heruntergeklettert?»
«Kurz bevor Madame Hensel den Text vergaß. Ach, Rosina», plötzlich wurde aus der altklugen Maske das verstörte Gesicht eines einsamen Kindes. «Ich hab Loretta so gern gehabt. Sie war immer lustig, und ich war ihr nie im Weg. Mama sagt, es gehe ihr jetzt gut. Glaubst du das auch?»
Zwei dicke Tränen kullerten über ihre schmalen Wangen. Rosina nahm das Kind in die Arme und wischte zärtlich die Tränen fort. «Bestimmt», sagte sie leise, «bestimmt geht es ihr jetzt gut. Und ganz gewiß weiß sie, daß du sie gern gehabt hast, und freut sich darüber. Und ich bin sehr froh, daß du sie auch so gern gehabt hast wie ich.»
Charlotte nickte. «Ja», sagte sie, und es klang schon wieder ein wenig fester. «Nun sind wir zu zweit. Und der Mann, der Loretta an dem Abend besucht hat, ist sicher auch traurig.»
«Lukas? Ganz bestimmt. Woher kennst du ihn? Hast du ihn auch vor der Vorstellung mit Loretta im Hof gesehen?»
Wieder nickte Charlotte. «Da haben
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