Lorettas letzter Vorhang
eine Extralektion für natürliche Bewegungen und Gesten bekamen oder auch nur an den Kostümen arbeiteten und dabei miteinander schwatzten. Auch das Ballett und die Musiker waren oft am Tage im Theater, um zu üben, Noten zu kopieren oder ihre Instrumente zu reinigen. Doch nach Lorettas Tod brauchten alle eine Pause. Niemand konnte einfach zum üblichen Alltag zurückkehren. Einige fürchteten sogar, es habe Loretta nur zufällig getroffen, und wer immer allein im Theater sei, begebe sich in höchste Gefahr.
Rosina lauschte. Nichts war zu hören. Auch aus den Höfen, aus denen sonst immer Stimmen oder Geräusche aus der Werkstatt eines Schusters heraufdrangen, kam kein Laut. Nicht einmal eine Taube gurrte.
Rosina öffnete eines der Fenster – es war stickig in der Garderobe und roch durchdringend nach irgend etwas, was sie nicht erkennen konnte – und sah hinaus. In den Räumen der Männer im Anbau flackerte hinter einem der Fenster ein mattes Licht auf. Wahrscheinlich zündete gerade jemand eine Kerze an. Es war also tatsächlich jemand da. Sie atmete erleichtert auf und spürte erst jetzt, wie bedrückend ihr das große, stille Haus mit seinen verschachtelten Räumen und Gängen erschienen war.
Aus einem Schuppen neben den kleineren Häusern am Ende des Hofes kam eine Frau mit einem großen Korb Feuerholz. Sie mochte nur wenige Jahre älter als Madame Hensel sein, aber ihr gebeugter Rücken, die Zahnlücken ihn ihrem Mund und die schrundige Haut ihrer groben Hände ließen sie wie eine alte Frau erscheinen. Es war unwahrscheinlich, daß sie in der vorletzten Nacht im Hof gewesen war und gesehen hatte, ob sich jemand die hintereTreppe hinauf und ins Theater geschlichen hatte. Um diese Stunde hatte sie wahrscheinlich längst auf ihrem Strohsack gelegen und geschlafen. Aber vielleicht auch nicht, vielleicht hatte sie gerade aus dem Fenster gesehen, als der Mond über die Dächer stieg und die hintere Treppe beleuchtete. Und vielleicht hatte sie wie heute gerade Holz in ihren Korb gepackt, als Rosina vorgestern aus dem Fenster der Garderobe Loretta mit Lukas Blank im Hof gesehen hatte. Doch bevor sie sich entschließen konnte, hinauszulaufen und die Frau danach zu fragen, warf die ihr einen argwöhnischen Blick zu und war wie ein Schatten zwischen den Mauern verschwunden. Die Frau würde nicht davonlaufen. Rosina konnte sie, die Männer aus der Schusterwerkstatt und auch einige andere später befragen.
Sie sah sich unschlüssig in der Garderobe um. Wo mochte Loretta das Buch versteckt haben? In den großen Körben waren einige kleinere Teile der Kostüme verstaut, Mieder, Tücher oder Kopfputze, die in der nächsten Zeit nicht gebraucht wurden. Die Kostüme, viele aus kostbaren Stoffen, waren der größte Reichtum des Theaters. Rosina wußte nicht, wie viele es waren, aber sie füllten lange Stangen in einem gut gelüfteten Raum hinter der Garderobe. An den Stangen hier an der Garderobenwand hingen nur ein paar davon.
Die Körbe waren ein schlechter Platz, etwas für kurze Zeit zu verstecken, gewiß hatte Loretta das Buch, falls es tatsächlich existierte, nach der Vorstellung mit in ihr Zimmer bei der Krögerin nehmen wollen. Eine eigene Schublade wie die Hauptakteurinnen hatte sie ja nicht gehabt. In dem Regal neben der Tür zur Garderobe der Tänzerinnen standen allerlei kleinere Körbe und Kästen, in den meisten wurden verschiedene Utensilien und Accessoires zu den Kostümen verwahrt, andere gehörten den Schauspielerinnen, die wie Loretta und Rosina keine Schublade hatten. Einer der Kästen mußte also Loretta gehört haben. Allerdings konnte Rosina sich nicht erinnern, daß sie jemals einen davon benutzt hatte. Sie trug immer einen Beutel bei sich, in dem sie ihre persönliche Habe, ihre Schminke, Bänder, Kämme und dergleichen verwahrte. Es waren viele Kästen, und Rosina scheute sich, im Eigentum der anderen Frauen herumzustöbern. Auch schienen sie ihr zu klein, um darin ein dickes Buch zu verstecken, und gewiß hatte Wagner gestern schon Lorettas Sachen untersucht. Am besten würde sie mit den Kostümkörben anfangen, niemand würde sich wundern, sie dabei zu sehen.
Als sie den ersten Korb öffnete, hörte sie ein Rumpeln. Es war nicht laut, aber der gedämpfte Ton durchdrang ihren Körper wie ein Schlag, und sie ließ erschrocken den Korbdeckel fallen. Sie hatte ja gewußt, daß jemand im Theater sein mußte. Sie lauschte angestrengt, aber nun war es wieder still. Kein Ton drang herein.
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