Lorettas letzter Vorhang
später die Treppen hinaufstieg, um seinem jüngsten Sohn zu erklären, er sei «ein wenig unwirsch» gewesen, es tue ihm leid, aber er, Niklas, müsse sich andererseits auch an die Familienregeln halten, und ob es ihn freuen würde, ein eigenes Pferd zu haben, fand er wieder einmal, daß er eine kluge Frau geheiratet hatte. Auch eine anstrengende, aber doch nicht zu anstrengende. Meistens.
Als es ihm endlich gelungen war, Abstand zwischen sich und Rosinas Fausthiebe und Fußtritte zu bringen, warf David Rhye einen Blick in den Spiegel. Sein linkes Auge schwoll in beeindruckender Geschwindigkeit zu. Auch seine Oberlippe sah seltsam aus, und daß sein Gesicht nicht von blutigen Kratzern durchzogen war, lag nur an der Länge und Stärke seiner Arme. Fünfmal hatte er ihren Namen rufen müssen, bevor Rosina ihn erkannte und aufhörte, um sich zu schlagen wie ein Wild in der Falle.
Als er schließlich wagte, sie loszulassen, drückte sie sich in die hinterste Ecke der Garderobe, griff nach einer großen Schere und hielt sie, mit beiden Händen auf ihn gerichtet, vor ihre Brust. Sie zitterte; er war nicht sicher, daß sie nicht doch zustoßen würde, wenn er ihr wieder zu nahe käme. Also setzte er sich auf einen Hocker gleich neben der Tür, so weit von ihr entfernt, wie es in dem nicht sehr großen Raum möglich war, und begann ruhig zu sprechen. Ihre Augen erinnerten ihn an die der jungen Pferde, die nach ihrer freien, wilden Jugend in den Hochmooren südwestlich von Bristol eingefangen und zum erstenmal ins Zaumzeug gezwungen wurden, um zu braven Zugtieren abgerichtet zu werden.
«Beruhigt Euch doch, Rosina.» Er hob ergeben beide Hände, als könne er damit beweisen, daß er friedlich und ungefährlich sei. «Es tut mir leid, daß ich Euch so erschreckt habe. Ich wußte ja nicht, daß Ihr es seid, ich dachte, alle seien in der Kirche. Könntet Ihr nicht wenigstens die Schere wieder auf den Tisch legen? Nein? Nun gut, wie ich schon sagte, ich dachte, alle seien in der Kirche, und als ich vom Hof aus einen Schatten hinter den Fenstern sah, fürchtete ich, ein Dieb sei hier eingedrungen. Ihr habt doch auch gedacht, ich sei ein – Himmel, wir haben beide gedacht, daß sich hier Lorettas Mörder herumtreibt.»
«Wenn Ihr das auch gedacht habt, war es sehr dumm von Euch, hier hereinzuschleichen. Ein vernünftiger Mensch hätte die Wache gerufen, bis zum Gänsemarkt sind es keine fünfzig Schritte. Sagt mir einen guten Grund, warum Ihr das nicht getan habt, und dann lege ich die Schere
vielleicht
auf den Tisch.»
«Der einzige Grund ist meine Neugier. Zugegeben, kein sehr vernünftiger Grund. Vielleicht gefällt es Euch besser, wenn wir es Eitelkeit nennen? Stellt Euch vor, ich hätte ihn erwischt. Seyler hätte mir zum Dank glatt den doppelten Lohn zahlen müssen. Dann hätten die Leute zwei Gründe gehabt, unsere Kasse zu stürmen: die Stätte des Grauens zu betreten und den Helden zu sehen, der den Unhold zur Strecke gebracht hat. Und vor allem zu hören, denn ich bleibe doch lieber Violinist, auch wenn der edle Seyler mir dann bestimmt eine von Ekhofs größten Rollen angeboten hätte, damit mich auch jeder und vor allem jede in ganzer Größe bewundern könnte. Täuscht mich das matte Licht, oder lächelt Ihr wirklich?»
Rosina lächelte, wenn auch nur so leicht, daß es in der Tat kaum zu erkennen war. Ohne ihn aus den Augen zulassen und vorsichtig, als sei sie aus hauchfeinem chinesischem Porzellan, legte sie die Schere auf den Tisch, aber sie setzte sich nicht auf den Stuhl, den er ihr, immer noch mit gebührendem Abstand, zuschob. Wagner und Herrmanns hatten recht. Sie konnte sich von niemandem wirklich vorstellen, daß er Menschen tötete. Und David?
Warum denn nicht David? Sie wußte nichts von ihm, als daß er wunderbar Violine spielte und aus Bath gekommen war. Nur weil ihr Herz manchmal, und wirklich nur manchmal, ein wenig zu heftig klopfte, wenn er sie aus diesen dunklen Augen ansah, mit diesem Gesicht, das eher das eines Freibeuters als eines Violinisten zu sein schien? Sie sah auf seine Hände, und wieder lief ein kaltes Rieseln über ihren Rücken. Waren das die Hände, die Lorettas Hals umfaßt und gebrochen hatten? Einfach gebrochen, als wäre er aus Reisig? Jemand, der sich darauf versteht, der weiß, wie man so etwas macht, hatte Wagner gesagt. Und konnten Hände, die eine Violine so betörend singen ließen, kaltblütig töten? Was hatte Charlottes Mutter gesagt? Wer schön ist, muß auch
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