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Lorettas letzter Vorhang

Lorettas letzter Vorhang

Titel: Lorettas letzter Vorhang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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hören. Und warum jetzt, wo alle am Tisch sitzen und auf den jungen Herrn warten? Kannst du nicht reden?»
    «Ich war im Stall», flüsterte Niklas.
    «Im Stall, aha. Und warum jetzt? Warum konntest du nicht später gehen oder um Erlaubnis bitten?»
    «Weil   …» Niklas schluckte, und eine dicke Träne rannüber seine Wange. «Weil   …» Er drehte sich abrupt um und stolperte in wilder Hast hinaus, seine Schritte hallten auf der Treppe zum ersten Stock, auf der Treppe zum zweiten Stock, eine Tür fiel ins Schloß, und dann war es sehr still.
    «Grandios», sagte Augusta und erhob sich. «Auch wenn du plötzlich den altväterlichen Tyrannen hervorkehrst und es dir gewiß nicht recht ist, werde ich jetzt nach deinem zitternden Sohn sehen. Denkst du eigentlich manchmal daran, daß er noch ein Kind ist?»
    Wieder fiel eine Tür ins Schloß.
    «Ich will mich gar nicht einmischen, Vater», begann Christian vorsichtig. «Ich weiß ja, er ist ein seltsamer kleiner Kerl und nicht sehr zugänglich. Aber ich glaube nicht, daß er sich eine Frechheit erlauben wollte. Bella fohlt, und er hat schon gestern an nichts anderes gedacht, also ist er wohl gleich hingelaufen und hat völlig vergessen, daß wir hier auf ihn warten. Wie Tante Augusta sagt, er ist noch ein Kind.»
    «Ein Kind? Er ist zwölf Jahre alt.»
    «Mit mir warst du nie so streng.»
    Claes schwieg. Er stand am Fenster, sah hinunter auf das Fleet und wehrte sich mit all seiner Kraft gegen ein äußerst unangenehmes Gefühl von Scham. Die Wut hatte ihm sehr viel besser gefallen. Warum war er nur so zornig geworden, als Niklas den Raum betreten hatte? Wohl kaum wegen der paar Minuten Unpünktlichkeit. Weil er ihm nicht die Liebe und den Respekt gewährte, den ein Vater von seinen Kindern erwartete? Weil er ihm zeigte, daß es eben doch etwas gab, das Claes Herrmanns nicht schaffte? Weil er Maria immer ähnlicher wurde?
    «Soll ich trotzdem mit ihm zum Wandsbeker Gestüt fahren?»
    Claes drehte sich um und sah seinen älteren Sohn an, als hätten sich die Rollen vertauscht. «Ja, natürlich, fahr mit ihm zum Gestüt.» Er seufzte. «Und versuche, ihm einen schönen Tag zu machen. Manchmal bin ich der Tölpel, was?»
    Christian grinste ihn an, aber er schwieg. Er traute der schnellen Einsicht nicht, und es war immer noch genug Zunder in der Luft; kein Grund, neue Funken hineinzuwerfen.
    «Dann werde ich auch mal nach Bella sehen und Brooks sagen, daß er anspannen soll. Ihr entschuldigt mich gewiß.»
    Anne war scheinbar ganz in die Betrachtung der zarten Streublumen, Schmetterlinge und Blättchen auf der Fayence-Terrine in der Mitte des Tisches versunken. Sie hatte ihren Mann schon zornig erlebt, aber diesmal war es anders gewesen. Natürlich mußte er Niklas darauf hinweisen, daß er pünktlich bei Tisch zu sein habe. Jedes Kind vergaß das mal oder hatte einfach Wichtigeres zu tun, als zu essen und feine Manieren zu üben. Aber dieser völlig unangemessene Ausbruch war nicht nach seiner Art. Oder kannte sie ihn nur nicht gut genug? Es stimmte, seit Niklas’ Rückkehr war die Stimmung in diesem Haus stets wie kurz vor einem großen Gewitter. Heute hatte es sich zum ersten Mal entladen, aber es würde kaum etwas besser machen.
    Claes hatte sich wieder umgedreht und sah aus dem Fenster, so stellte sie sich neben ihn und sah ebenso aus dem Fenster.
    «Ich überlege auch seit Wochen», sagte sie, als genug geschwiegen war, «was ich falsch mache, Claes. Ich verstehe ja nur wenig von Kindern. Aber ich denke, sie sind nicht viel anders als andere Menschen, nur komplizierterund gewiß verletzlicher. Aber was hat dich heute so furchtbar geärgert? Es war doch eigentlich eine Lappalie.»
    «Beim Himmel, Anne, es tut mir schon leid. Ich weiß nicht, welcher Teufel mich geritten hat, aber ich war plötzlich nur noch zornig, und das machte mich immer noch zorniger. Er ist mir so fremd. So feindlich. Ich will nicht, daß er so ist.»
    Sie nahm seine Hand und legte sie für einen Augenblick an ihre Wange. «Ich glaube, er will das auch nicht», sagte sie dann. «Ich will dir etwas erzählen, vielleicht verstehst du ihn danach ein wenig besser. Es ist eine sehr schöne Geschichte. Als ich vor einigen Tagen mit ihm im Garten in Harvestehude war – er gibt es zwar nicht zu, aber ich bin sicher, daß er heimlich ein kleiner Botaniker ist   –, nun, wir waren also im Garten, und da haben wir einen Igel gesehen. Bis dahin hatte ich wie ein munterer Wasserfall geplaudert, er wie

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