Lorettas letzter Vorhang
sehr geliebt hatte und von ihm abgewiesen worden war. Aber er hat die Tat nie gestanden, sondern immer seine Unschuld beteuert. Und vielleicht», er atmete tief aus, als habe er eine schwere Last zu lange getragen, «vielleicht haben sie in Bristol tatsächlich den Falschen gehenkt.»
Alle Wärme in seinen Augen war nun verschwunden, und Rosina war nicht sicher, ob es klug gewesen war, die Schere so schnell zurück auf den Tisch zu legen.
SONNTAG, DEN 11. OKTOBER, MITTAGS
Die große Standuhr schlug gerade halb zwölf, als Blohm die Salontür öffnete und Weddemeister Wagner meldete. Wagner trug den dunkelblauen Rock seiner Uniform, Claes hatte ihn nie in einem anderen gesehen, und doch sah er heute sonntäglicher aus als sonst. Vielleicht lag es an der frisch gestärkten Halsbinde, an dem besonders glatt rasierten, rundlichen Kinn oder einfach an dem würdevollen Ausdruck seines Gesichts, hinter dem er sein Unbehagen über die vornehme Umgebung verbarg. Claes konnte sich gut daran erinnern, wie Wagner geschwitzt hatte, als Senator van Witten ihn im letzten Jahre zum ersten Mal in dieses Haus brachte. Sie hatten im Kontor gesessen, und der kleine, dicke Weddemeister war ihm nicht besondersschlau erschienen. Inzwischen wußte er, daß das ein Irrtum gewesen war. Wenn Wagner nun auch nicht mehr jedesmal schwitzte, sobald er dem Freund des Senators gegenübertrat, war ihm doch deutlich anzumerken, daß er ein Gespräch im Kontor der privaten Umgebung dieses Salons vorgezogen hätte.
«Nehmt Platz, Wagner, sucht Euch einen Stuhl aus. Irgendeinen. Ah, da kommen ja auch die Damen.»
Anne und Augusta traten ein, gefolgt von Betty, die sichtlich angestrengt ein großes Tablett mit Kaffeegeschirr und einem Teller mit Mandelmakronen und kleinen Aniskuchen trug. Sie begrüßten Wagner freundlich.
«Es ist gut, Betty, vielen Dank», sagte Anne, als alle um den Tisch saßen. «Ich werde uns heute selbst bedienen. Und mach die Tür gut hinter dir zu.»
Das tat Betty, wenn auch tief enttäuscht. In der Küche warteten alle darauf, was sie zu erzählen haben würde, und nun hatte sie nichts zu erzählen, als daß der Weddemeister heute nicht schwitzte. Darüber würden zwar alle lachen, aber es waren nicht die erhofften Neuigkeiten über Mademoiselle Lorettas Mörder, den der Weddemeister gestern abend ins Loch gesteckt hatte.
Alle waren da, Anne, Claes, Augusta und Wagner. Nur Rosina fehlte. Man wolle noch ein wenig warten, bestimmte Claes, es mache ja keinen Sinn zu beginnen, nur um bald darauf noch einmal von vorn zu erzählen. Nachdem die neuesten Nachrichten über das Wetter, die Ameisenplage in einigen Regionen Südfrankreichs, den Untergang eines vollbeladenen Dreimasters vor den westindischen Inseln und die immer frecher werdenden Räuberbanden in Charles Town/Carolina ausgetauscht waren, vertröpfelte das Gespräch unbehaglich.
Schließlich seufzte Augusta und sah auf die Standuhr.«Eine halbe Stunde», sagte sie. «Das ist nicht ihre Art, sie ist sonst immer pünktlich.»
«Vielleicht ist sie im Theater aufgehalten worden», sagte Claes.
Aber alle wußten, daß das Theater geschlossen war. Löwen würde es nicht wagen, am Sonntag eine Probe anzusetzen.
«Vielleicht …», begann Anne. Aber ihr fiel nichts ein. Alle hatten sich in den letzten Tagen Sorgen um Rosina gemacht, aber je länger der Mittwoch her war, um so leichter wurden die Sorgen, und nun, da Lukas in der Fronerei eingesperrt war, gab es keinen Grund mehr, um ihre Sicherheit zu fürchten.
Anne war Rosina zuletzt bei Lorettas Beerdigung begegnet, gestern vormittag, und hatte dort auch dieses Treffen verabredet, um zu besprechen, was inzwischen geschehen war. Wagner hatte sie am Nachmittag mit Charlotte im Theater getroffen. Lukas war zwar arretiert, aber zum einen war das erst spät am Abend gewesen, und zum anderen war noch nicht sicher, ob er wirklich der war, den alle suchten.
Gerade als Claes aufstand, um nach Blohm zu rufen, damit er Benni zum Haus der Krögerin schickte, hörten sie eilige Schritte auf der Treppe. Die Tür flog auf, und Rosina trat ein, die dicken blonden Locken zerzaust, das Gesicht so gerötet, daß die dünne weiße Narbe auf ihrer Wange deutlicher als sonst hervortrat, die Schuhe feucht und schmutzig – Rosina war eindeutig in zu großer Eile gewesen, um auf Pfützen oder verrutschende Kämme und Bänder zu achten.
«Verzeiht», sagte sie, immer noch atemlos, «ich habe nicht auf den Glockenschlag geachtet. Ich
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