Lorettas letzter Vorhang
solche Verfahren oder andere Geheimnisse der Meister und Manufakteure ausspioniert und an andere weitergibt oder verkauft, ist viel schlimmer als einer, der Silberleuchter oder ein paar Goldstücke stiehlt. Spionage schadet auch dem gesamten Handel einer Stadt und muß sehr viel strenger bestraft werden als ein einfacher Diebstahl.»
Die Stimmung im Herrmannsschen Salon war nicht mehr im mindesten sonntäglich.
«Ich glaube», sagte Rosina, die sich langsam wieder beruhigte, «daß er das Buch gestohlen hat. Aber ich glaube nicht, daß er es in Lorettas Auftrag getan hat. Und falls er es ihr tatsächlich gegeben hat, dann gewiß nur zur Verwahrung, weil er ein unauffälliges Versteck brauchte. Ohne daß sie wußte, wie wertvoll das Buch war. Wer wäre schon auf die Idee gekommen, bei Loretta danach zu suchen? Aber ich glaube nicht einmal, daß er es ihr gegeben hat. Dann müßte es nämlich im Theater sein. Wenn er es ihr vor der Vorstellung im Hof gegeben hat – ich und auch einige andere haben ja gesehen, daß er sie dort traf und auch mit ihr stritt –, hatte Loretta keine Gelegenheit mehr, es wegzubringen. Sie konnte es nur im Theater lassen, in ihrem Beutel, in einem der Kostümkörbe, in irgendeiner Nische, irgendwo, wo sie an diesem Abend noch gewesen ist. Sie war nur im Theater, aber das Buch ist nicht dort. Das weiß ich genau. Ich bin nämlich gerade dort gewesen und habe alles durchsucht.»
Und so erzählte sie, während Wagners Stirn sich in immer tiefere Falten legte, doch noch von ihrem Treffen mitLukas in der Martinskapelle, von seiner seltsamen Geschichte von dem Buch seines Vaters und ihrer vergeblichen Suche danach. Die beunruhigende Begegnung mit David Rhye behielt sie für sich.
«Ihr hättet Wagner gleich von diesem Treffen berichten sollen», sagte Claes, dessen Stirn nicht viel anders aussah als Wagners. «Und am besten», fuhr er fort, «hättet Ihr es gar nicht erst verabredet. Jedenfalls nicht allein.»
«Aber ich dachte doch, es gehe ihm nur um seinen Kummer. In der Martinskapelle in St. Petri war ich sicher wie in Abrahams Schoß, es waren viele Menschen dort, und ich glaubte auch nicht, daß er wirklich etwas mit Lorettas Tod zu tun hatte. Und die Sache mit dem Buch seines Vaters kam mir dann so seltsam vor. Ich dachte, ich suche danach, und wenn ich es finde, kann ich es Euch immer noch sagen. Es wäre sonst nur unnötige Aufregung gewesen.»
Wagner seufzte, Anne seufzte, Claes schüttelte den Kopf, und Augusta sagte: «Aber das Theater war doch schon durchsucht worden, oder nicht?»
«Nicht sehr gründlich», gab Wagner zu, «es gab keinen Anlaß. Wir haben natürlich nach Dingen gesucht, die der Täter verloren oder sonst hinterlassen haben könnte, und nach Mademoiselle Grelots Sachen, auch nach ihrem Beutel, von dem Rosina sagte, daß sie ihn immer bei sich trug, aber wir haben ihn nicht gefunden. Nach anderen Dingen zu suchen, gab es, wie ich schon sagte, keinen Anlaß. Aber natürlich habe ich, gleich nachdem ich von Schwarzbach von der Sache erfuhr, meine Leute wieder ins Theater geschickt. Sie werden jetzt noch bei der Suche sein.»
Nachdem sie noch eine Weile die offenen Fragen und Widersprüche debattiert und beschlossen hatten abzuwarten, ob das Musterbuch nun gefunden werde, hatte niemandmehr ein angemessenes Interesse für Augustas Bericht von ihrem Besuch in Madame Bauers Salon. Nicht einmal Augusta selbst. So erzählte sie nur das Nötigste: wer zu dem Kreis gehörte, wer welche Haltung gezeigt hatte und daß man dort allgemein und ganz besonders Mrs. Bellham, Agnes Matthews Cousine, darauf bestanden hatte, mit diesen Pamphleten, die in der Stadt gegen das Theater und gegen die Schauspieler und Theaterunternehmer kursierten, nichts zu tun zu haben. Daß man im Gegenteil über die pöbelhafte Konkurrenz äußerst ungehalten war. Allerdings habe auch dort niemand eine Ahnung, wer der Schreiber dieser Zettel sei.
Dabei fiel Claes ein, daß er in Jensens Kaffeehaus Mr. Bellham gesehen und von Bocholt gehört habe, er sei wohl an den hiesigen Kattundruckereien und überhaupt am Kattunhandel und -druck interessiert. Was ja aber nicht verwunderlich sei, die Hamburger Kattunmanufakturen seien schließlich in ganz Europa bekannt. Gerade die Engländer, von denen der hamburgische Kattun ja meistens komme, suchten immer neue Handelsbeziehungen anzuknüpfen, so wie er auch gehört habe, daß Schwarzbachs Sohn mit gleichem Auftrag nach London und Bristol gereist
Weitere Kostenlose Bücher