Lost Girl. Im Schatten der Anderen
werden.
Sobald ich nicht mehr so an den Händen schwitze, folge ich Sean. Ich höre den Vater gerade sagen: »Stimmt, das ist wirklich merkwürdig. Ob es übertrieben wäre, wenn ich die Polizei rufe?«
»Hm.« Sean zuckt mit den Schultern. »Weiß nicht.«
Der andere reibt sich das Kinn. »Na ja, schaden kann es nicht. Wenn der Mann nur auf jemanden wartet, sollen die das klären. Lieber einmal zu oft als einmal zu wenig.«
Ich will protestieren, mache aber den Mund wieder zu. Der Vater geht und ich sehe Sean missbilligend an. »Du hast zu ihm gesagt, da stehe ein sonderbarer Typ, der die Kinder anstarrt?«
Sean zuckt mit den Schultern. »Wenn es bewirkt, dass er verschwindet …«
»Aber fair ist es nicht.«
»Jäger sind auch nicht fair.«
»Aber wir wissen doch gar nicht …«
»Ich schon«, sagt Sean. »Mit dem stimmt etwas nicht. Der tut so, als wäre er ein Tourist. Man kann die Jahreszahl auf dem Umschlag seiner Karte sehen und sie ist zehn Jahre alt. Außerdem hat er etwas um den Fußknöchel gewickelt. Seine Jeans stehen an dieser Stelle etwas ab. Vielleicht hat er da ein Messer versteckt.«
Ich starre Sean schweigend an und mir ist übel. Wie hat er diese kleinen Details überhaupt bemerkt? Und warum ich nicht?
Sean schüttelt den Kopf. »Du fühlst dich nicht bedroht. Aber überall auf der Welt haben Jäger schon solche wie dich getötet und es besteht immer die Möglichkeit, auch wenn sie noch so klein ist, dass einer hier auftaucht. Wie der Typ da drüben. Vielleicht irre ich mich. Aber vielleicht auch nicht. Ich gehe jedenfalls kein Risiko ein.«
Ich schweige lange. Ich will nicht hören, was er sagt, aber es leuchtet ein. Was Sean sagt, leuchtet immer ein.
»Glaubst du immer noch, ich leide an Verfolgungswahn?«
Ich schüttele den Kopf. »Höchstens ein bisschen. Aber ich denke gerade an etwas anderes. Jonathan hätte dir die Chance geben müssen, wie ein ganz normaler Junge aufzuwachsen. Er hätte dir dein anderes Leben nicht wegnehmen dürfen.«
»Wenn er mich anders erzogen hätte«, sagt Sean, »wäre ich jetzt nicht hier. Wäre dir das lieber?«
Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll, und blicke verstohlen zu dem Laternenpfosten hinüber. Der Mann ist weg und auf der Straße entfernt sich ein Polizeiauto.
»Sag Mina Ma nichts von dem Mann. Du machst ihr nur Angst.«
»Aber sie würde es wissen wollen.«
»Bitte.«
»Also gut. Aber Erik sage ich es. Er wird bestimmt alle Hebel in Bewegung setzen, dass die Gerüchte verstummen. Nur dann können wir sicher sein, dass der Jäger nicht zurückkehrt.«
Wir verlassen den Park und ich merke, dass meine Hände zittern. Ich verknote die Finger, um das Zittern zu unterdrücken.
»Vielleicht hast du mir gerade das Leben gerettet«, sage ich. Es soll wie ein Scherz klingen.
Sean lächelt zum ersten Mal, seit wir den Bahnhof verlassen haben. »Nicht, wenn er ein Tourist war.«
Bei unserer Rückkehr ins Haus wartet Mina Ma im Wohnzimmer auf uns. Sean wirkt ganz ruhig und ich bemühe mich nach Kräften, es ihm nachzutun.
Mina Ma fragt uns nach dem Zoo. Ich beschreibe ihn für sie. Dann bieten wir an, ihr mit dem Abendessen zu helfen, aber sie scheucht uns fort. Sean kickt einen alten Fußball durch den Garten, ich dusche und versuche die Angst abzuwaschen, die mir immer noch anhaftet. Beim Essen erzähle ich Mina Ma von meinem neuen Namen. Sie schweigt lange. Ich mache mich schon auf das Schlimmste gefasst, aber sie sieht mich nur an und kaut. Dann sieht sie Sean an. Ich werde weder aus ihrem noch aus seinem Gesicht schlau. Dann wendet sie sich wieder mir zu.
»Na gut«, sagt sie schließlich. »Aber beschwer dich nicht bei mir, wenn du Ärger bekommst.«
Ich sehe sie voller Liebe an. »Ist das alles?«
»Ja, Kind, das ist alles. Wenn du diesen Namen willst, kannst du ihn haben. Meinen Segen hast du.« Sie schüttelt den Kopf. »Sich nach einem Elefanten zu nennen … Warum überrascht mich das eigentlich?«
Nach dem Essen machen wir es uns im Wohnzimmer gemütlich. Sean und ich sitzen einander am Schachbrett gegenüber, Mina Ma lässt eine alte Bluse aus, die ihr nicht mehr passt, und erzählt uns eine Geschichte.
»Als wir uns vorhin über Elefanten unterhalten haben, ist mir eine Geschichte eingefallen«, sagt sie. »Ich habe sie dir erzählt, als du noch klein warst. Du erinnerst dich vielleicht nicht mehr daran. Es ist das Märchen vom Bauern und dem Mungo.«
»Was haben Elefanten damit zu tun?«
Mina Ma sieht mich
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