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Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Titel: Lost Girl. Im Schatten der Anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Ströle
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nicht. Echos sind der lebende Beweis dafür, dass es nicht ausgeschlossen ist, dem Tod irgendwann einmal ein Schnippchen zu schlagen. Ich schaffe Leben. Das ist eine unendlich kostbare Begabung.«
    Ich traue meinen Ohren nicht. »Kein Wunder halten die Menschen uns für seelenlose Kopien ohne eigenen Charakter«, sage ich bitter. »Er könnte doch wenigstens so eine Art väterliches Interesse an uns zeigen.«
    »Du kannst ja mal Ophelia fragen, ob er das hat.«
    »Warum sollte sie das wissen?«
    »Weil er ihr Vater ist.«
    Ich bin schockiert. »Das ist nicht wahr! Sie ist doch so nett. Und sie hätte es mir erzählt …«
    »Warum? Sie weiß, was du von den Meistern hältst. Warum sollte sie dir freiwillig sagen, dass jemand, den du fürchtest und hasst, ihr Vater ist?«
    Mir wird plötzlich klar, warum Ophelia die Meisterei immer vor uns anderen verteidigt. Warum sie so leidenschaftlich daran glaubt. Als sie vor Jahren zum ersten Mal zu uns kam, hatte ich den Grund für ihre Anwesenheit schon nach wenigen Stunden aus Mina Ma herausgequetscht: Ophelia sollte das Bindeglied zwischen den Meistern und mir sein, sie sollte den Meistern von meinen Fortschritten berichten. Ich konnte sie nicht leiden, aber sie war so freundlich, so darauf bedacht, mir zu gefallen, dass sie mich schließlich für sich gewann. Sie erzählte den Meistern nie von meinen Regelverstößen, von den Dingen, die mir gefährlich werden könnten. Immer stand sie auf meiner Seite.
    »Er ist ihr Vater.« Was für eine merkwürdige Vorstellung. »Sie hat im Garten mit Mina Ma über ihn gesprochen. Er bedeutet ihr viel.«
    Sean nickt. »Sie bewundert ihn. Dabei kamen die beiden in der Vergangenheit nicht immer gut miteinander aus. Adrian war in ihrer Kindheit und Jugend kaum da und sie kennt die Gerüchte über ihn. Aber sie glaubt nicht, dass die schlimmen Geschichten wahr sind.«
    Ich betrachte Adrian Bordens Augen. Das Funkeln darin. »Glaubst du, ich werde je in die Meisterei zurückkehren und den Meistern noch einmal begegnen?«
    »Hoffentlich nicht«, meint Sean. »Wenn ein Echo nach London zurückkehrt, bedeutet das gewöhnlich seinen Tod.«
    Schweigend sehen wir einander an. Schließlich wende ich den Blick ab und streiche die Salbe auf das Tattoo. Sean setzt sich an seinen Schreibtisch und dreht sich mit dem Stuhl zu mir um.
    Die Moderatorin der Sendung hat sichtlich Mühe. Ich muss ihr zugutehalten, dass der aalglatte Adrian Borden kein leichter Interviewpartner ist. »Fürchten Sie nicht, dass der zweifelhafte Ruf der Echos auch an Ihnen – ihrem Schöpfer – haften bleiben wird?«, will sie wissen.
    »Warum sollte ich?«, fragt Borden. »Niemand macht dem Schöpfer Vorwürfe. Die Menschen haben sich vor dem Monster gefürchtet, nicht vor Frankenstein.«
    Diesmal kann ich Sean nicht aufhalten. Er schaltet die Nachrichten aus.
    »Jetzt, wo es gerade interessant wurde«, beklage ich mich.
    »Du weißt, warum.«
    Ich bin mit dem Eincremen fertig und fahre mit dem Finger über die Schlange, die unter der dicken Schicht Salbe nur undeutlich zu sehen ist.
    »Wenn ich doch ein Mensch wäre.«
    »Du bist einer.«
    »Ein richtiger. Ein richtiger Mensch mit einer richtigen Seele und allem.«
    »Schon mal von der kleinen Meerjungfrau gelesen? Sie wollte ein Mensch werden, ihr Wunsch ging in Erfüllung, aber dann musste sie sterben.«
    Zuerst der Mungo, dann die kleine Meerjungfrau. Warum gehen solche Märchen eigentlich nie gut aus?
    »Ich muss bald gehen«, sage ich widerstrebend. »Ich darf den letzten Zug nach Hause nicht verpassen. Mina Ma wartet bestimmt schon mit einer Axt auf mich und mit einer Schaufel für mein Grab, wenn sie mir erst den Kopf abgehackt hat.«
    Sean kichert und steht auf. Die Hände hat er in die Hosentaschen gesteckt. »Kommst du allein nach Hause?«
    Ich sehe ihn finster an und er hebt die Hände. »War nur eine Frage.«
    »Ich bin auch allein hergekommen, oder?«
    »Das stimmt«, gibt er zu. »Aber ich kann dich zum Bahnhof begleiten.«
    Ich will ihm eigentlich sagen, dass das nicht nötig sei, tue es aber doch nicht. Seine Augen sind im Licht der Lampe noch grüner als sonst. Ich will nicht gehen. Ich bin ein Mädchen. Aber ich bin auch ein Echo und Echos dürfen keine Wünsche äußern. Trotzdem will ich bleiben. Habe ich dieses Gefühl schon immer gehabt? Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass ich bleiben will, auch wenn es falsch ist.
    Sean flucht leise. »Hör auf, mich so anzusehen«, sagt er.
    »Tu ich nicht!«
    »Tust

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