Lost Girl. Im Schatten der Anderen
ich jetzt auch diesen Jungen lieben, weil sie es tut?
Ray.
»Sie sind schon seit über einem Jahr zusammen«, hat Erik mir am Mittwoch gesagt. »Amarra hat die Beziehung geheim gehalten, solange sie konnte. Wahrscheinlich hätte sie auch jetzt noch nicht darüber gesprochen, aber Sasha hat die beiden zusammen gesehen. Amarra sagt, sie liebe ihn. Also musst du das auch.«
»Warum?«, wollte ich wissen. »Was für einen Sinn hat das? Wahrscheinlich trennen sie sich in ein paar Monaten sowieso wieder. Verliebt man sich in unserem Alter nicht ständig?« Ich klang verbittert, konnte aber nichts dagegen tun.
»Eva«, sagte Erik ganz sanft, »bitte. Ich weiß, es ist schwer, aber so sind die Vorschriften.«
Ich sah ihn grimmig an, sah die Falten auf seiner Stirn und den besorgten Blick seiner Augen. Und sagte, einverstanden, ich werde es versuchen.
Er hatte einige Informationen zu Ray dabei, grundlegende Dinge, die meine Nenneltern ihm mitgeteilt hatten. Außerdem brachte er die Tagebuchseiten der vergangenen Woche.
Ich schlug sie auf und bekam einen Schock – Amarra schrieb zum ersten Mal in unserem Leben direkt an mich. Noch seltsamer war, dass ich ihre Worte beim Lesen nicht sah, sondern hörte. Leise, aber starr vor Empörung. Ich kenne ihre Stimme in- und auswendig.
»Ich soll dir alles über ihn sagen. Überhaupt alles, was wir getan haben, wo wir waren, was für Geheimnisse wir einander anvertraut haben, all das. Aber wenn du glaubst, ich tue das, hast du dich geirrt. Du bist eine Diebin. Du hast mir schon alles andere weggenommen, aber das bekommst du nicht. Er gehört nur mir.«
Sie hatte Recht. Ich bin eine Diebin. Ich habe alles genommen, was ihr gehört. Sie musste mir alles geben. Wie es sich wohl anfühlt zu wissen, dass jedes Kleidungsstück, das du trägst, alles, was du weißt, auf der anderen Seite der Erdkugel kopiert, nachgemacht und gedoppelt wird?
Auch wenn ich Amarra nicht besonders mag, sollte sie mir doch nichts über Ray sagen müssen. Schon bei dem Gedanken, Teil einer Liebe zu werden, auf die ich kein Recht habe, wird mir übel.
Mir kommt ein gefährlicher, verräterischer Gedanke. Würde es mir mit Sean nicht genauso gehen? Würde ich mich nicht auch mit aller Kraft dagegen wehren, meinem Echo alles über ihn zu erzählen? Mein Echo hätte kein Recht darauf, also habe ich es auch nicht … Aber das Gesetz schreibt es so vor. Falls Amarra eines Tages nicht mehr leben sollte, muss ich nach Indien reisen und Ray lieben, so gut ich kann, genau wie sie es getan hat. Amarras Leben ist wie eine Welle, die mich erbarmungslos immer und immer wieder zurück auf den Strand wirft.
Es fängt an zu regnen. Wasser läuft mir zwischen die Finger und an meiner Nase entlang auf die Lippen. Ich schmecke es. Dann stehe ich auf und kehre ins Haus zurück. Ich schließe die Terrassentür, damit die Kälte nicht hereinkriecht. Durch das an der Scheibe hinunterströmende Wasser sehe ich die nasse Schaukel hin und her schwingen. Was passiert mit ihr, wenn ich einmal nicht mehr da bin?
In der Scheibe taucht Seans Spiegelbild auf, gebrochen durch tausend glitzernde Regentropfen. Er lehnt sich neben mir an den Türrahmen.
»Tut mir leid«, sagt er.
»Mir auch. War blöd von mir wegzulaufen.«
»Es war meine Schuld«, erwidert er. Er lächelt schwach und atmet hörbar aus. Es klingt ein wenig zittrig. »Er sieht ganz okay aus.« Ich werfe ihm einen verwirrten Blick zu. Seine Stimme ist belegt. »Eigentlich ganz nett.«
»Ray?«
»Ja. Wahrscheinlich ist er in Ordnung.«
Ich denke an den Jungen auf dem Foto. Der Ausdruck auf seinem Gesicht hat mich neidisch gemacht und eine starke Sehnsucht in mir geweckt. So angesehen zu werden, so offensichtlich geliebt zu werden … Sein Gesicht zeigt so deutlich, was er ihr gegenüber empfindet. Sie ist seine Sonne.
Ich nicke. »Ich könnte notfalls lernen, ihn zu mögen oder zumindest so zu tun. Vielleicht müsste ich ja auch gar nicht immer nur so tun. Manchmal wird ein Gefühl Wirklichkeit, wenn man es sich ganz stark wünscht.«
»Ja?«
Ich zucke mit den Schultern. »Andererseits«, fahre ich leise fort, »will ich das vielleicht gar nicht. Vielleicht will ich ihn weder jetzt noch irgendwann.«
Sean schweigt. Die Schatten des herunterlaufenden Regens ziehen Schlieren über sein Gesicht. Ich sehe, wie er mit sich kämpft, wie sein Blick durch den Garten wandert, und spüre eine bittersüße Wärme. Erst auf der Haut, dann in mir. Wie gut ich seine Augen
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