Lost Girl. Im Schatten der Anderen
damals, als ich heimlich zu Sean gefahren bin, und dem Moment, als die Zugtür sich schloss, sind Monate vergangen, ein ganzer Herbst, Winter und Frühling. Und in dieser Zeit hatten wir nie Streit. Obwohl wir oft kurz davor standen. Bei jeder zufälligen Berührung sind wir auseinandergefahren wie zwei aufgeschreckte Hühner. Wir konnten uns nicht in die Augen sehen, wenn andere anwesend waren, und wir haben erst Wochen später zu einem einigermaßen normalen Umgang miteinander zurückgefunden. Ich hatte erwartet, dass irgendwann einer von uns durchdrehen würde. Aber das war nicht der Fall.
Jetzt dagegen …
Ich renne in den Garten und lasse mich auf die Schaukel fallen. Der Himmel ist grau, wolkenverhangen und trübe. Bald wird es anfangen zu regnen (was für eine Überraschung, Regen in England!), dann muss ich zurück ins Haus.
Das Foto hat alles auf den Kopf gestellt. Ich hätte es eigentlich kommen sehen müssen. Aber es hat uns alle kalt erwischt.
Zum ersten Mal habe ich das Gesicht des Jungen auf dem Foto am Abend vor meinem Geburtstag gesehen, Ende April.
Nach meiner Spritztour zu Sean passte Mina Ma wie eine Löwin auf mich auf und ließ mich monatelang kaum aus dem Haus. Auch jetzt fürchtet sie noch immer, ich könnte etwas Dummes anstellen, was ich gut verstehen kann. So wie ich mich benommen habe, wird sie mich kaum für einen besonnenen, umsichtigen Menschen halten. Ich verbrachte also die meiste Zeit zu Hause, während es draußen schneite und wieder taute. Zu Neujahr habe ich mir einen schiefen Pony geschnitten, weil Amarra aus mir unerfindlichen Gründen ihre beste Freundin Sonya mit einer stumpfen Schere an ihre Haare gelassen hat.
Also wirklich, ein wenig mehr Verstand hätte ich ihr schon zugetraut.
Und in der Nacht vor meinem sechzehnten Geburtstag träumte ich dann von einem schwarzhaarigen Jungen mit dunklen, blitzenden Augen. Er kam mir bekannt vor. Vielleicht habe ich schon früher von ihm geträumt, konnte mich aber danach nicht mehr erinnern. Mir wurde ganz eng um die Brust. Er schien mir vertraut, was seltsam war, und das Gefühl, mit dem ich ihn ansah, war noch seltsamer, bis ich aufwachte und feststellte, dass es offenbar Amarras Traum gewesen war. Ein Traum von jemandem, den Amarra aus der Schule kannte oder der ein Freund der Familie war.
Meine Gefühle, also Amarras Gefühle, die ich im Traum mit ihr teilte, hätten mir eine Warnung sein müssen, aber ich schenkte ihnen keine Beachtung.
Ich wachte auf und war sechzehn.
Davon abgesehen verlief der Geburtstag vollkommen normal, es passierte nichts Ungewöhnliches. Sean und Erik und Ophelia kamen mit Geschenken, Mina Ma backte mir einen Kuchen in Gestalt eines kleinen Elefanten. Für die Party räumten wir das Wohnzimmer aus und hängten Luftballons auf. Ich fand mich eigentlich zu alt für Luftballons, aber Mina Ma sagte, ihr seien Luftballons lieber als Küsse mit Jungs in einer dunklen Ecke. Sean hustete und starrte zu Boden, ich studierte die Tischdecke. Mina Ma hustete auch, nur bei ihr klang es verdächtig nach einem Lachen.
Ich dachte wochenlang kein einziges Mal mehr an Amarras Jungen. Bis das Foto mit seinem Gesicht darauf kam. Jetzt hat das Gesicht auch einen Namen: Ray. Und ich kann an nichts anderes mehr denken.
Der eiskalte Wind beißt mir ins Gesicht. Ich schließe die Augen und öffne sie wieder. Ich sitze immer noch im Garten auf der Schaukel, das Wetter ist unverändert schlecht und die Welt hat nicht aufgehört sich zu drehen. Rays Foto liegt unter mir im nassen Gras. Ich kann mich nicht daran erinnern, es fallen gelassen zu haben.
Was hat Erik gesagt?
»Lerne ihn kennen, wie Amarra es getan hat, und lerne ihn lieben, wie du ihre Familie lieben gelernt hast.«
Aber habe ich wirklich gelernt, Neil und Alisha zu lieben? Ich kenne ihre Gesichter und weiß alles über sie. Im Lauf der Zeit habe ich sogar eine gewisse Zuneigung zu ihnen entwickelt, in dem Maß, dass mir etwas Wichtiges fehlen würde, wenn sie plötzlich nicht mehr da wären. Amarra liebt ihre Eltern. Also sollte ich sie auch lieben. Dazu noch Amarras Bruder Nikhil und ihre kleine Schwester Sasha. Ich bewahre die Fotos auf, auf denen Sasha älter und größer wird, und manchmal, wenn ich sie ansehe, lächle ich sogar liebevoll. Aber ich weiß nicht, ob das etwas zu bedeuten hat. Ob es sich bloß um Gefühle handelt, die von Amarra übrig sind, oder ob es die Folge davon ist, dass ich mein Leben lang so getan habe, als liebte ich sie.
Muss
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