Lost Girl. Im Schatten der Anderen
alles.« Er seufzt. »Ich habe mich vor ihrem Geburtstag gedrückt. Das hätte ich wahrscheinlich nicht getan, wenn sie mir so wichtig wäre, wie ich immer gedacht habe. Und ich glaube auch nicht, dass sie sich so schnell von mir getrennt hätte, wenn ich ihr wirklich etwas bedeutet hätte.«
Ich schweige. Sean schüttelt den Kopf, als wollte er den Gedanken abschütteln. Er zeigt auf meine Hand. »Darf ich es sehen?«
Ich zeige ihm das Tattoo, das unter einer Schicht Salbe nur ungenau zu erkennen ist.
»Hm, getrocknetes Blut«, sagt Sean. »Sehr schön.«
Ich fluche.
»Fluchen macht so unattraktiv, Schatz.«
Ich lache wider Willen. »Ich müsste eigentlich wieder Salbe drauf tun. Hast du zufällig welche da? »
»Ich sehe nach. Weiß Mina, dass du hier bist?«
»Ich bin heimlich gegangen, als sie Mittagschlaf hielt, aber sie hat angerufen, als ich schon fast vor deiner Tür stand. Sie war nicht besonders gut gelaunt.«
»Was du nicht sagst.«
»Sie will mir das Herz herausreißen und es zum Trocknen aufhängen. Außerdem will sie mir den Rest des Jahres nur noch sauer eingelegte Mangos zu essen geben.«
»Mein Beileid.« Sean geht zur Tür. »Mach den Fernseher an oder sonst was. Ich komme gleich wieder.«
Ich schalte den Fernseher ein, sehe mich aber lieber in Seans Zimmer um. Das ist sein Reich. Ich will es erkunden, so wie man mit den Fingern die Konturen eines Körpers erkundet.
Zettel mit Notizen und Kritzeleien bedecken den Schreibtisch, ein Laptop, daneben ein Stapel Bücher, die Jacke einer Schuluniform hängt über der Lehne des Schreibtischstuhls, mit Büchern und DVD s vollgestopfte Regale, ein MP 3-Player, CD s, in einer Ecke ein abgewetzter Fußball, weitere Zettel mit durchgestrichenen Szenen aus einem Drehbuch oder Theaterstück, an dem Sean offenbar schreibt, die Telefonnummern zweier Theater in London, Korrekturen eines Regisseurs mit einem komischen Namen, Hausarbeiten, verschiedene Vögel aus Wachs auf dem Bücherregal …
»… dass Echos keine Seele haben, steht fest.«
Ich wende ruckartig den Kopf. Offenbar habe ich die Nachrichten eingeschaltet. Jemand kommentiert einen Bericht über einen Jäger, der in Bristol ein Echo getötet hat. Ich höre so eine Reportage nicht zum ersten Mal, andererseits passiert es auch nicht täglich. Der Beitrag endet. Ein Studio wird eingeblendet, in dem offenbar über Echos diskutiert wird. Eine junge, hübsche Moderatorin unterhält sich mit einem hochgewachsenen Mann in einem schwarzen Talar.
»Ist dieses Urteil nicht ein wenig voreilig, Pater MacLean?«, fragt sie. »Was wissen wir denn überhaupt über die Seele von Menschen oder anderen Wesen?«
»Ich empfinde tiefes Mitleid für diese unglückseligen Kreaturen«, sagt der Mann. Sein Gesichtsausdruck ist ernst und streng. »Aber es handelt sich um abscheuliche Missgeburten. Gott ist unser Schöpfer. Kein Meister hat das Recht, aus Materialien, die so abstoßend sind, dass ich gar nicht näher darauf eingehen will, Leben zu schaffen. Von Menschen, die Gräber schänden und Tote aus Leichenhallen kaufen, kann nichts Gutes kommen. Die Meister spielen mit den Echos ein gottloses Spiel.«
»Aber das …«
Der Priester fällt ihr ins Wort. Jetzt hört er sich an, als zitiere er aus einem Buch. »Furchtbar muss es sein« , deklamiert er, »denn über alle Maßen furchtbar wären die Folgen, wollte der Mensch sich anmaßen, den Weltenschöpfer in seinem gewaltigen Werk nachzuahmen.«
» Frankenstein , soviel ich weiß«, bemerkt die Moderatorin trocken. Ein kalter Schauer durchläuft mich. »Eine seltsame Wahl für einen Priester.«
Der Priester geht nicht auf den Kommentar ein. »Wie wollen diese Kreaturen in den Himmel gelangen? Ohne Seele sind sie bei Gott nicht willkommen.«
Aus den Augenwinkeln sehe ich eine Bewegung und drehe mich um. Sean steht in der Tür, ich weiß nicht, wie lange schon.
»Stimmt das, Sean?«, frage ich. »Hasst Gott mich?«
»Natürlich nicht«, erwidert er barsch. »Gott hasst niemanden. Darum geht es doch gerade. Vielleicht gibt es gar keinen Gott, aber das spielt auch keine Rolle. Wer denkt schon an den Himmel? Wir leben hier auf der Erde. Und ich weiß, dass auch du eine Seele hast oder eben das, was uns zu Menschen macht.«
Er gibt mir die Salbe und will die Nachrichten ausschalten.
»Warte«, sage ich.
Der Mann in dem schwarzen Talar steht auf und geht. Dafür nimmt nun ein anderer Mann im Studio Platz. Er ist ebenfalls groß, aber hager, und hat ein
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