Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Titel: Lost Girl. Im Schatten der Anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Ströle
Vom Netzwerk:
meine Tasche zeigen, aber mein Arm verweigert den Dienst. »Ich habe dir Milch mitgebracht«, sage ich.

7. Schöpfer
    S ean sieht mich ungläubig an. »Milch«, wiederholt er. Er schlägt die Hände vors Gesicht. Ich warte ungeduldig auf der Türschwelle. »Milch«, sagt er noch einmal.
    Ich zeige ihm die Flasche.
    »Ich dachte, vielleicht muntert dich das auf«, sage ich. »Ich habe dir auch einen Vogel mitgebracht. Hier.«
    Eine Reihe von Gefühlen huscht über Seans Gesicht. Seine Augen sind sehr dunkel und schmal, was bedeutet, dass er wütend ist. Aber die Anspannung in seinem Gesicht lässt langsam nach. Offenbar freut er sich doch ein wenig, dass ich da bin.
    Er tritt zur Seite und lässt mich herein. »Mum ist vor dem Fernseher eingeschlafen, sie hatte einen anstrengenden Tag«, sagt er. »Wir gehen rauf.«
    Ich folge ihm nach oben. Drei Türen gehen vom Flur im ersten Stock ab. Zwei sind geschlossen, die dritte führt in ein Bad. Wir steigen noch eine Treppe hinauf. Der Boden unter meinen Füßen ist mit einem Teppich ausgelegt, an den cremefarbenen Wänden hängen kleine Bilder und Fotos. Sean bewohnt den ausgebauten Dachboden. Darin herrscht eine Art organisiertes Durcheinander. Jede kleinste Ecke ist vollgestopft, überall stapeln sich die Dinge.
    Sean wirkt angespannt. »Ich könnte dich umbringen.«
    »Ich weiß.« Ich zwinge mich, meinen Blick vom Boden zu lösen und Sean anzusehen. »Das mit Lucy tut mir so leid. Ich wollte nicht …«
    »Was?«, blafft er. Ich zucke zusammen. »Du glaubst doch wohl nicht im Ernst, dass ich deswegen sauer auf dich bin! Am liebsten würde ich dich schütteln, bis du wieder klar denken kannst.«
    Ich weiche vorsichtshalber einen Schritt zurück. »Dann bist du also wütend, weil ich gekommen bin?«
    »Natürlich. Weißt du, was die mit dir anstellen, wenn sie das erfahren? Mein Gott, du bist …«
    »Eine absolute Vollidiotin?«, schlage ich vor. »Völlig daneben?«
    »Das war …«
    »… leichtsinnig von mir? Ich weiß.«
    »Die Meister …«
    »… hätten allen Grund, mich zu töten, wenn sie von der Sache erfahren.«
    »Hör auf, mir ins Wort zu fallen«, knurrt Sean genervt.
    »Sie werden es nicht erfahren«, sage ich. »Ich wäre nicht gekommen, wenn ich das nicht ganz sicher wüsste. Wir beide sagen es ihnen nicht und außer uns weiß es nur Mina Ma und wir wissen, dass auch sie schweigen wird wie ein Grab.«
    »Trotzdem hättest du nicht kommen dürfen«, schimpft Sean. »Hast du vergessen, dass vielleicht erst vor wenigen Tagen ein Jäger dein Haus beobachtet hat? Eines Tages werden sie dich erwischen, wenn du so etwas noch mal tust. Und was dann?«
    »Keine Ahnung«, sage ich. »Das weiß ich erst, wenn es so weit ist. Aber ich bin nicht gekommen, um mit dir zu streiten. Das mit Lucy hat mir so leidgetan. Ich wusste, es ist riskant, aber ich dachte, wenn ich dich aufmuntern könnte, dann wäre es das wert. Schließlich ist es meine Schuld, dass du das Wochenende nicht mit ihr verbringen konntest.«
    Sean seufzt. Ich halte ihm den Vogel aus Wachs hin. Er zögert und nimmt ihn dann doch. »Es ist nicht deine Schuld«, sagt er bestimmt, »aber trotzdem danke. Dafür, dass du mich aufmuntern willst.«
    »Ist es wirklich, weil du nicht zu ihrem Geburtstag gekommen bist?«
    »Ja, darüber war sie ziemlich sauer.«
    Ich will etwas sagen, schlucke die Worte dann aber herunter.
    »Sag’s ruhig.« Sean lächelt schief und sieht nicht mehr wütend aus. »Du findest ihre Reaktion reichlich überzogen.«
    Ich nicke.
    »Vielleicht.« Er zuckt mit den Schultern. »Aber es war auch nicht gerade nett von mir, zu sagen, wir würden an ihrem Geburtstag gemeinsam etwas unternehmen, um es mir dann im letzten Moment anders zu überlegen.«
    »Es scheint dir ja nicht allzu viel auszumachen.« Ich will nicht anklagend klingen.
    Er grinst. »Du fühlst dich betrogen, ja? Da kommst du extra her, riskierst alles, und dann bin ich gar nicht am Boden zerstört. Wozu also das Ganze?«
    Ich lache und beiße mir auf die Lippen. »Aber ich dachte, du magst sie.«
    »Ich mochte sie ja auch.«
    Ich lasse nicht locker, denn ich habe plötzlich das Gefühl, dass ich es unbedingt wissen muss. »Mochtest?«
    »Hm, ja«, sagt er. »Ich weiß nicht. Wir haben vieles gemeinsam. In der Schule sind wir beide in der Theatergruppe, wir sehen gemeinsam Fußball, wir gehen beide gern abends was trinken. Und sie ist …« Er sucht nach einem passenden Wort. »… hübsch. Vielleicht war das schon

Weitere Kostenlose Bücher