Lost Girl. Im Schatten der Anderen
du wohl.«
»Wenn ich doch …«
»Schade, dass ich …«
Wir verstummen beide. Was wir auch sagen wollten, wir werden es nicht sagen. Ich drehe mich um und gehe zur Tür. Sean folgt mir. Wir schleichen durchs Haus, ohne seine Mutter zu wecken, und treten in die Nacht hinaus. Die Luft tut gut, ich spüre sie kühl und frisch auf meiner warmen Haut. Ich betrachte das Straßenpflaster, bis Sean das Schweigen bricht und anfängt, über das Wetter zu reden, ausgerechnet. Ich steige in das Gespräch ein und wir kommen vom Wetter auf ein Lied zu sprechen, das in letzter Zeit ständig von Radio 1 gespielt wird.
»Vergangene Nacht hatte ich einen Traum«, sage ich, als uns zu dem dummen Lied nichts mehr einfällt. »Ich hatte Flügel und bin geflogen.«
»Ich habe früher auch solche Sachen geträumt. Mit sechs habe ich mich als Peter Pan verkleidet, und jedes Mal wenn ich eine Wimper verlor, wünschte ich mir, ich könnte fliegen.«
Ich sehe Sean unschuldig an. »Wow. Deshalb wurden also Flugzeuge erfunden!«
Er lacht.
Nebeneinander sitzen wir auf einer Bank im Bahnhof. Einen Moment lang erlaube ich mir, an all die Filme zu denken, in denen sich das Paar am Bahnhof zum Abschied küsst. Die Vorstellung ist bittersüß, traurig und schön zugleich.
Mein Zug fährt ein und wir stehen auf. Beinahe tue ich es. Beinahe stelle ich mich auf die Zehenspitzen und küsse ihn, schlinge die Arme um seinen Hals und spüre seine Finger auf meiner Haut. Aber ich lasse es bleiben. Ich weiß nicht, wie ich es anfangen soll.
Ich denke an Ophelia, die ihre Zigarette raucht und über ein totes Mädchen spricht. An Erik, der Mina Ma vor Jahren von einem Echo erzählt hat, das sterben musste, weil sie – oder er? – wegrannte und das Gesetz brach.
Das reicht, um mich davon abzuhalten, zumindest diesmal.
»Von was träumst du, wenn du nicht vom Fliegen träumst?«, fragt Sean. »Von Amarras Leben?«
»Nein, Amarra-Träume habe ich nur selten. Von Städten. Ich träume immer von großen Städten.« Über meine Träume von dem grün gestrichenen Kinderzimmer sage ich nichts.
»Und von Menschen?«
»Manchmal. Von Menschen in diesen Städten.«
Ich steige in den Zug und drehe mich noch einmal nach Sean um. Er ist still und schweigt.
»Von was träumst du, Sean?«
Er sieht mich unverwandt an, als eine Trillerpfeife schrillt, tritt er einen Schritt zurück. Die Zugtür beginnt sich zu schließen. Ich hebe die Hand und winke.
»Von dir«, sagt er, bevor die Tür ganz zugeht. »Ich träume oft von dir.«
8. Sehnsucht
E s ist ein gutes, ein schönes Foto. Die Sonne fällt genau im richtigen Winkel auf sein Gesicht und hebt die markanten Züge hervor. Braune Augen blinzeln ins Licht. Und erst das Lächeln, lieb und offen und spontan, ein glücklicher Moment auf Film gebannt.
Ja, es ist ein wunderbares Bild, aber das ändert nichts an der schrecklichen Frage: Kann ich den Jungen lieben, der mich von diesem Foto anlächelt?
Nein, nicht mich anlächelt. Sie.
»Aha.«
Ich fahre erschrocken herum. Sean steht hinter mir und starrt das Bild an, das ich betrachtet habe. Ich will es vor ihm verstecken, aber meine Hände gehorchen mir nicht. So muss sich ein im Scheinwerferlicht gefangenes Reh fühlen. Auch wenn ich es nie mit eigenen Augen gesehen habe, weiß ich, dass die armen Tiere wie festgenagelt stehen bleiben.
»Das ist er also?«
»Ja.«
»Ziemlich blass für einen Inder, oder?«
»Er ist nicht blass.«
»Er hat eine hellere Haut als du. Du wirst ja nur deshalb nicht braun, weil du hier in diesem wunderbaren englischen Klima lebst. Warum ist er so hell?«
»Er ist zur Hälfte Franzose.«
»Pech für ihn. Heißt er Pierre?«
»Nein, zufälligerweise nicht. Er heißt Ray. Seine Mutter ist Französin, soviel ich weiß.«
»Ihr werdet sicher ein hübsches Paar sein.«
»Wir werden nie irgendwas Hübsches sein«, schimpfe ich. »Ich werde ihn nämlich nie kennenlernen. Bestimmt ist die kleine Lovestory sowieso bald wieder vorbei. Außerdem wird Amarra bestimmt viel länger leben als ich.«
»Sag so was nicht. Sie wird nicht länger leben als du.«
»Dann mach du dich nicht über Ray lustig, nur weil du ihn nicht magst.«
»Ihn nicht mag? Ich kenne ihn doch gar nicht.« Sean verzieht das Gesicht. »Aber du, du nimmst ihn ja jetzt schon in Schutz. Offenbar hast du dich schon ein wenig in ihn verliebt, wie es sich gehört.«
Ich springe auf und stürme aus dem Zimmer.
Wir haben uns noch nie so heftig gestritten. Seit
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