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Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Titel: Lost Girl. Im Schatten der Anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Ströle
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sein? Also als Liebespaar?«
    Ich nicke und denke daran, wie Ray mir damals bei meinem ersten Mittagessen in der Schule zugezwinkert hat, wie er mich angelächelt hat. Er war hinreißend. Temperamentvoll und launisch. Er sagte, ich sei schön, aber er meinte Amarra. Er war hitzig und aufbrausend – und er gehörte ihr. Er liebte sie. Für eine kurze Zeit glaubte er, dass er mich liebte. Und ich tat so, als liebte ich ihn.
    Lekha starrt mich an. »Könntest du wirklich den Vormund vergessen, von dem du mir so viel erzählt hast? Sean?«
    Könnte ich?
    Hätte ich Ray wirklich und wahrhaftig lieben können, wenn es Sean nicht gäbe?
    Es ist so heiß, dass die Luft über der Straße flimmert. Ich versuche mir Sean in dieser Umgebung vorzustellen, mit verschwitzten Haaren und der Sonne in den Augen. Mit seinem schiefen Lächeln hat er mir jedes Mal das Herz gebrochen. Er hatte die wundervollsten grünen Augen. Und er war so verdammt praktisch veranlagt, dass es nervte, so vernünftig und klug. Kleinere Vorschriften hat er missachtet, aber nie eine große. Er war für mich da, wenn ich ihn brauchte, und auch, wenn ich ihn nicht brauchte. Ich hätte ihn geliebt, wenn er mich gelassen hätte. Aber ich werde nie wissen, ob er mich hätte lieben können. Oder geliebt hat.
    Ich habe Sean nie vergessen. Er war immer da, immer bei mir, wenn ich Ray traf. Er hat mich nie allein gelassen. Und ich weiß nicht, ob er es je tun wird.
    »Keine Ahnung«, sage ich wahrheitsgemäß zu Lekha.
    Sie schüttelt den Kopf. »An deiner Stelle hätte ich schon längst einen Herzinfekt bekommen. Ich kann es nicht ertragen, wenn alles so durcheinandergeht.«
    »Infarkt.«
    »Nein, Schätzchen«, erwidert sie zärtlich. »Das wäre ja ansteckend.«
    Ich seufze.
    »Warum bist du überhaupt hier?«, frage ich. »Hast du nicht letzte Woche gesagt, deine Mutter hätte heute Geburtstag?«
    »Hat sie ja auch, aber sie ist verreist, also kann ich tun und lassen, was ich will.« Ich höre das nicht zum ersten Mal. Lekhas Mutter ist viel unterwegs. »Wenn sie weg ist, wohne ich immer bei meinem Vater. Ich mag ihn. Bei ihm gibt es nie Gemüse zum Abendessen.«
    Lachend strecke ich mich auf meinem Sonnenplatz auf der Treppe aus und gähne. »Ich weiß, in ein paar Wochen fangen die Prüfungen an, aber ich bin trotzdem so froh, dass die Schule Ende dieser Woche vorbei ist. Mir hängt es so was von zum Hals heraus, da jeden Tag hinzugehen.«
    »Du meinst, du erträgst es nicht länger, dass alle so tun, als hättest du persönlich ihren Hund erschossen«, sagt Lekha.
    Ich lache verblüfft. Es klingt wie ein Schnauben. »Ziemlich guter Vergleich, wirklich.«
    Bei Einbruch der Dämmerung teilen wir uns eine Autorikscha nach Hause. Ich habe, als ich dort ankomme, nicht das Gefühl, daheim zu sein, auch wenn mir die Umgebung inzwischen angenehm vertraut ist. Die Atmosphäre ist immer gleich. Alles ist friedlich, ich höre leise Stimmen, Alisha rumort in ihrem Dachatelier und Neil raschelt in seinem Arbeitszimmer mit Papieren. Aber die Ruhe ist nur oberflächlich. Mit einer falschen Bewegung könnte man sie zerstören. Und dahinter lauern Angst, Kummer und Leid.
    Ich schaue kurz im Wohnzimmer vorbei, wuschele Sasha durch die Haare und gehe dann rauf in Amarras Zimmer. Mein letzter Englischaufsatz des Jahres ist am Freitag fällig und ich will ihn heute Abend zu Ende schreiben.
    Ich bin zur Hälfte fertig, da klopft Alisha. »Beschäftigt?«, fragt sie und lässt den Blick belustigt über meine ordentliche Handschrift und den akkuraten Stapel beschrifteter Blätter wandern. Ich habe viele Jahre gebraucht, um mir Amarras Handschrift anzueignen.
    »Ja«, gebe ich zu. »Aber ich hänge gerade fest.«
    »Brauchst du Hilfe?«
    »Es geht um dieses Gedicht.« Ich zeige es ihr. »In der Fragestellung geht es um Wahrheit und Lüge und darum, dass alles in der Stadt nur Fassade ist, aber mir fällt beim Lesen nur auf, wie traurig es klingt.«
    Alisha lächelt ein wenig. »Ich kenne es. Es ist wirklich traurig.«
    »So wie ich es verstehe, handelt es von einem Mann, der alles verloren hat und deshalb in seine frühere Heimat zurückkehren will. Und das Traurige ist, dass er nicht zurückkehren kann, weil es diese Welt nicht mehr gibt.«
    »Dann schreib das«, sagt Alisha. »Schreib es.« Ihre Stimme klingt seltsam und ich blicke zu ihr auf. Ihre Lippen beben. Was habe ich gesagt? Sie versucht ein Lächeln. »Es ist nichts. Ich musste nur gerade an … etwas denken …«
    Ich

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