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Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Titel: Lost Girl. Im Schatten der Anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Ströle
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dem Auge. Ich werfe mich fauchend auf ihn. Er schreit vor Schmerzen und weicht zurück.
    Ich frage mich, ob ich damit gewonnen habe.
    So schnell, wie alles angefangen hat, ist es wieder vorbei. Es wird wieder hell, die Schatten sind verschwunden und es hat aufgehört zu läuten.
    An der Wand stehen einige Gestalten. Meine Klassenkameraden. Die Fremden sind weg. Ein Mädchen sieht aus, als wäre ihm übel, ein Junge ebenfalls. Sam kann mir offenbar nicht in die Augen sehen. Mir ist schwindlig vor Schmerzen und Wut darüber, dass ich mich habe überrumpeln lassen. Ich hätte schneller reagieren und fester zutreten sollen.
    Und ich will Sean anschreien. Er hat gesagt, Echos seien Engel unter den Sterblichen, aber ich glaube, ich habe mit einem Engel gerade nicht viel Ähnlichkeit.
    Da höre ich eine neue Stimme mit einem ganz schwachen französischen Akzent. Ich erstarre.
    »Was ist hier los?«, will Ray wissen.
    Jemand murmelt etwas.
    »Sind die nicht letztes Jahr von der Schule geflogen?«, fragt Ray scharf. »Ich erinnere mich an sie. Wirklich nette Jungs. Sie sind also immer noch deine Freunde, Sam, ja?«
    »Ich spiele mit ihnen Tennis«, antwortet Sam leise.
    »Und sie waren bereit, dir einen kleinen Gefallen zu tun? Wie rührend. Wenn du so sauer bist, dass du ein Mädchen schlagen wolltest, warum hast du es dann nicht selbst getan?«
    »Warum hast du sie nicht verprügelt?«, fragt Sam. »Damit ihr Gesicht nicht mehr so aussieht wie das von deiner Freundin. Mich hast du beim Fußball letztes Jahr doch auch geschlagen.«
    »Weil du geschummelt hast. Das war nur die gerechte Strafe. Aber ich schlage keine Mädchen.«
    »Die ist kein Mädchen.«
    »Ist mir egal. Was wäre, wenn deine Freunde sie aus Versehen getötet hätten?«
    »Bei so jemandem zählt das nicht als Mord«, murmelt Sam, aber er klingt verunsichert.
    Ray seufzt. »Denk doch mal nach, Sam. Wegen so was können wir alle von der Schule fliegen. Und die Leute, die sie geschaffen haben, die Meister, könnten dich auf Schadensersatz verklagen. Du Idiot. Was glaubst du, wird sie jetzt tun? Freundlich lächeln und dir verzeihen?«
    »Warum steht sie nicht auf?«, fragt ein anderer Junge. »Scheiße, Mann, ist sie tot?«
    Ich sehe, wie jemand neben mir in die Hocke geht, und zucke zurück.
    »Nein«, sagt Ray. Er klingt wütend. Weil ich lebe? Nein, das glaube ich nicht. Er ist wütend wegen dem, was die anderen getan haben. Zwar hasst er mich, aber er weiß auch, dass man so etwas nicht tut. Ich spüre tief in der Brust einen heftigen Schmerz und in diesem Augenblick hasse ich Ray ebenfalls. Eigentlich sollte mir doch egal sein, was er von mir hält.
    Wenn man so tut, als liebe man einen Jungen, empfindet man nach einer Weile vielleicht wirklich etwas für ihn. Wenn man monatelang die Spuren der Liebe und die Erinnerungen von jemand anders in sich trägt, werden sie vielleicht ein Teil von einem selbst. Oder aber Amarra hat damit gar nichts zu tun. Vielleicht bin ich nur eifersüchtig auf das, was sie hatte. Auf ihre Liebe, auf ihre Freiheit, lieben zu können.
    Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht mehr, was wirklich ist und was nicht.
    »Widerlich!«, höre ich ein Mädchen sagen. »Schlepp diese Typen hier bloß nie mehr an, Sam. Die sind nicht ohne Grund von der Schule geflogen.«
    Die Gruppe zerstreut sich, bis nur noch ein einziger Schatten übrig ist. Ich drehe den Kopf weg und will aufstehen, aber meine Beine machen nicht mit und mir ist schwindlig. Im Mund spüre ich etwas Warmes, Nasses. Es schmeckt rostig und riecht nach verwelkten Rosen.
    Zwei Arme hieven mich auf die Füße.
    »Lass mich los«, fauche ich. Wäre ich ein Wolf, ich hätte ihm die Hand abgebissen. Schade.
    Ray lässt mich wortlos los. Sein Gesicht ist angespannt, seine Augen sind dunkler als damals, als er in der Sonne saß und das Mädchen, das er liebte, anlächelte. Das Foto kommt mir jetzt vor wie ein Traum.
    »Warum kommst du noch zur Schule?«, fragt er. »Sam hat das nur getan, weil er wütend ist. Er wollte zur Polizei gehen, aber er musste mir schwören, dass er es bleiben lässt. Du bist hier nicht erwünscht. Vielleicht hat ja noch jemand anders Lust, dich zu verprügeln.«
    »Ist das eine Drohung?«
    »Nein«, erwidert er gereizt, »ich will nur, dass du gehst. Es tut höllisch weh, dir zu begegnen und dabei in Amarras Gesicht zu sehen.«
    Ich richte mich auf. »Das ist mein Gesicht.«
    »Verschwinde einfach. Geh, pack deine Sachen. Kapierst du nicht, dass das auch für

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