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Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Titel: Lost Girl. Im Schatten der Anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Ströle
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dich besser ist?«
    Ich bin erstaunt. »Warum interessiert dich, was gut für mich ist?«
    Rays Blick geht mir durch und durch. »Wenn ich das wüsste«, sagt er leise. »Leb wohl. Schönes Leben.«
    Er geht fort. Mir tut der ganze Körper weh. Und jetzt? Soll ich Neil anrufen und ihm sagen, dass ich ab sofort nicht mehr zur Schule gehen kann, dass es mir reicht?
    Nein, natürlich nicht. Ich werde nicht weglaufen oder sonst etwas Vernünftiges tun. Diesmal setze ich mich durch.
    Ich blicke über den Schulhof und auf das Klassenzimmer mit der kotzefarbenen Tür. Mein Herz hämmert immer noch und ich bin hundemüde. Ich gehe auf die Toilette und wasche das Blut ab. Die Verletzung ist nicht so schlimm, wie ich befürchtet habe, nur eine Schwellung und ein Bluterguss.
    Ich betrete den Klassenraum. Mrs Singh hat eben erst mit der montäglichen Doppelstunde englische Literatur und Sturmhöhe angefangen. Ich reagiere nicht auf ihre trockene Frage, ob ich denn keine Uhren lesen könne, sondern setze mich nur auf meinen Platz und genieße die entgeisterten Gesichter der anderen. Die meisten sind wie Lekha über den Zustand meines Gesichts erschrocken und starren mich mit großen Augen an. Niemand hat damit gerechnet, dass ich noch komme. Ich bin froh, dass ich es getan habe.
    Mrs Singh hält einen Vortrag über Heathcliffs offenbar unbestrittene Rolle als den »von Grund auf bösen Charakter« des Romans.
    Ich spreche, bevor sie meine gestreckte Hand ignorieren kann.
    »Ich finde, das stimmt nicht«, sage ich. »Ich glaube, Heathcliff war traurig und wütend und hat deshalb all die schrecklichen Dinge getan, aber er war nicht böse.«
    »Ich habe dich nicht aufgerufen, Amarra …«
    »Und ich finde«, fahre ich entschlossen fort, »er ähnelt Victors Mensch in Frankenstein .«
    »Du meinst das Monster«, verbessert Mrs Singh mich gereizt.
    »Nein, den Menschen.«
    »Frankenstein nennt seine Schöpfung selbst ein Monster.«
    »Wahrscheinlich hat er deshalb auch alles verloren. Wenn er ihr eine Chance gegeben und sie unterrichtet und aufgezogen hätte, statt sie zu verstoßen, wäre doch alles ganz anders ausgegangen. Wenn er seine Schöpfung geliebt hätte, hätte es vielleicht für beide ein Happy End gegeben.«
    »Geliebt?« Mrs Singh fällt fast die Brille von der Nase. »Frankenstein ist ein Schauerroman und kein Hollywoodschinken! Warum sollte man etwas lieben, was auf so unnatürliche Weise entstanden ist?«
    Jemand lacht. Mrs Singh scheint zu begreifen, was sie gesagt hat, und wird rot. Mein Gesicht glüht, so sehr leide ich.
    Vor mir schießt ein Arm hoch.
    »Ich bin derselben Meinung wie Amarra«, sagt eine hohe, klare Stimme, ohne darauf zu warten, dass Mrs Singh ihr das Wort erteilt. »Frankensteins Geschöpf hatte einen guten Kern. Es hat Victor sogar geliebt. Heathcliff ist genauso. Wer etwas Schlimmes tut, ist deshalb nicht zwangsläufig ein schlechter Mensch. Wer immer nur vom Schlimmsten ausgeht, gibt dem anderen von vornherein keine Chance. Ungefähr das hat Amarra gesagt und ich stimme ihr zu.« Damit auch alle begreifen, was sie gesagt hat, wiederholt Lekha es noch einmal. »Ich stimme ihr zu.«
    Niemand weiß, wie er darauf reagieren soll, und mir wird auf einmal etwas ganz Erstaunliches klar. Indem Lekha sich meiner Meinung angeschlossen und sie viel besser ausgedrückt hat als ich, hat sie etwas getan, mit dem niemand gerechnet hat: Sie hat Partei ergriffen.
    Für mich.
    Mrs Singh scheint ebenfalls zu spüren, dass sich hier eine neue Front gebildet hat. Sie schürzt die Lippen, als hätte sie auf eine Zitrone gebissen, schnauft verächtlich und schickt mich zur Krankenstation, wo die Schwester sich mein Gesicht ansehen solle. Aber es ist zu spät, das Geflüster zu ersticken und die Flammen zu löschen. Auf dem Weg zur Krankenstation lächle ich zum ersten Mal seit Tagen. Jemand hat für mich Partei ergriffen und damit habe ich nie im Leben gerechnet.

9. Flügel
    W ochenlang war Lekha für mich nur eine Mitschülerin aus Amarras Klasse. Aber als ich eines Nachmittags nach der Schule im Coffee Day neben ihr sitze, am selben Tisch, an dem Amarra manchmal mit Sonya und Jaya saß, dämmert mir, dass sie weit mehr ist als das. Sie ist meine Freundin.
    Sie bringt mich zum Lachen, häufig auf ihre Kosten, was ihr aber nichts ausmacht. Außerdem hört sie nur selten auf mich. Ich kann ihr noch so oft sagen, dass »Palästrina« ein Komponist ist, sie beharrt darauf, dass ich mich irre und es sich um ein

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