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Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Titel: Lost Girl. Im Schatten der Anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Ströle
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warte. Sie sieht mich an und fährt dann fort.
    »Diese Stadt war früher auch ganz anders. Als Neil und ich jung waren, konnten wir bis spät in die Nacht mit dem Auto herumfahren und Eis essen oder im Imperial ein Biryani. Und einmal«, sie lacht, »da wollten deine Tante Hema und ich etwas richtig Albernes machen. Ich war achtzehn. Hema stürzte eines späten Abends in mein Zimmer und sagte: ›Komm, Al, lass uns die Stadt rot anmalen.‹ Also haben wir aus dem Schuppen rote Farbe geholt, sind durch die ganze Stadt gefahren und haben einfach irgendwelche Mauern leuchtend rot angemalt.«
    Ich lache und auch Alisha lächelt. »Weißt du noch, wie wir dich in die Disco mitgenommen haben, als du vier warst? Wir haben getanzt. Du hast dich an meinem Bein festgehalten, weil dir schwindlig war, und dann hast du gekichert und zu mir aufgesehen und gesagt: ›Mama, der Sänger singt auch davon, dass ihm schwindlig ist‹, und das fanden wir beide so lustig.« Alisha summt leise eine Melodie. »Es war eine heile Welt«, sagt sie, »eine, die es jetzt nicht mehr gibt.«
    Tränen stehlen sich über ihr Gesicht und hinterlassen glänzende Spuren wie von Schnecken. Meine Kehle ist zugeschnürt und ich überlege, weshalb Alisha weint. Weil sie einmal jung und glücklich und albern war und nichts von Gesetzen wusste? Von Verlust, Gefahren und Opfern und von verzweifelten Versuchen, anderen etwas vorzumachen? Ihre heile Welt gibt es nicht mehr. Und es ist klar, wie zerbrechlich ihr Glaube an mich ist, wie wenig sie von Amarra wiedererkennt, wenn sie mich ansieht.
    Ich will, dass sie sich besser fühlt, aber ich weiß nicht, was Amarra gemacht hätte. Also umarme ich sie ungeschickt. Sie unterdrückt mit einem Schniefen ein verlegenes Lachen, sieht sich nach einem Taschentuch um und versucht, sich zu beruhigen. Auf der Kommode entdeckt sie das Schminkset, das Ophelia mir zum Abschied geschenkt hat. Ihre Miene hellt sich auf.
    »Hoppla, wo kommt das her?«
    Ich erstarre und suche verzweifelt nach einer Antwort. »Das hat mir jemand geschenkt.«
    Die nächste halbe Stunde albern wir mit dem Schminkset herum. Sasha kommt und will, dass wir ihr mit Lippenstift Muster auf das Gesicht malen. Zumindest vorerst bleibt der Schein gewahrt.
    Am Freitag habe ich gute Laune. Ich fiebere schon seit Wochen auf das Ende des Schuljahres hin. Zwar muss ich den größten Teil der Ferien lernen, aber in die Schule muss ich nur an den Prüfungstagen. Bis im Juli das neue Schuljahr anfängt. Unser letztes. Für Sean ging das Schuljahr immer erst im September los, hier ist alles zwei Monate versetzt.
    In der letzten Stunde haben wir englische Literatur. Mrs Singh teilt die Klasse in Zweiergruppen auf. Jede Gruppe soll fünf Minuten lang einen Autor vorstellen, mit dem wir uns im vergangenen Jahr beschäftigt haben. Ich mache mich darauf gefasst, mit Sam in eine Gruppe zu kommen, es wäre so typisch für Mrs Singh.
    Aber ich habe sie unterschätzt, sie teilt mir Ray zu.
    Ich rühre mich nicht und meine Arme liegen verschränkt auf dem Tisch. Vor mir sehe ich Rays gesenkten Kopf. Er wirkt schwermütig wie Hamlet. Ich kann mir allzu gut vorstellen, wie er sich innerlich die Haare rauft.
    Sam soll mit Lekha arbeiten und setzt sich neben sie. Er rückt von mir ab, weil er offenbar glaubt, ich könnte die Gelegenheit nutzen, mich für mein blaues Auge und die Prellungen im Gesicht zu revanchieren. Ich ignoriere ihn und beobachte stattdessen Ray.
    »Und was ist mit euch beiden?«, will Mrs Singh wissen und sieht Ray und mich böse an. »Habe ich nicht gesagt, ihr sollt zusammenarbeiten? Komm nach vorn, Amarra.«
    »Ich würde lieber hierbleiben, Mrs Singh«, sage ich höflich.
    »Dann setz du dich nach hinten, Ray.«
    »Ich bleibe hier«, sagt Ray mit zusammengebissenen Zähnen.
    Mrs Singh schickt uns beide aus dem Klassenzimmer und knallt die Tür hinter uns zu.
    »Das war kindisch«, fährt Ray mich an.
    »Du warst auch nicht besser«, schimpfe ich wütend zurück.
    Stunden später bin ich immer noch sauer. Ray bringt mich jedes Mal wieder in Rage. Finster starre ich aus dem Busfenster, betrete lärmend das Haus und klappere laut mit den Bechern, als ich mir etwas zu trinken mache. Ray hat meine gute Laune wieder einmal ruiniert, typisch. Außer mir ist niemand zu Hause. Lekha ist beim Zahnarzt. Es ist niemand da, der mich ablenken könnte.
    Da fällt mir der Dachboden ein. Wenn ich in Alishas Atelier nicht auf andere Gedanken komme, dann kann mir nichts

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