Lost Girl. Im Schatten der Anderen
mehr helfen. Ich steige hinauf.
Das Atelier ist so schön, wie ich es in Erinnerung habe. Ich war seit meinem ersten Besuch oft dort und es zieht mich immer wieder in seinen Bann. Mitten im Raum bleibe ich stehen, drehe mich langsam um mich selbst. Ich sehe mir jedes Werk eingehend an und sauge alles hungrig in mich auf.
In einer Ecke stehen Schachteln. Eine trägt die Aufschrift Abfälle. Ich mache sie auf und finde Papierschnipsel, Drähte, Pinsel und Federn. Ich nehme einen stabilen Draht und lange schwarze Federn heraus.
Durch die Fenster strömt die heiße Sommerluft herein. Ich rieche Salz und Erde und erhitzten Beton und wäre am liebsten draußen, hoch droben am Himmel.
Ich biege den Draht zurecht und will zuerst einen Vogel formen, eine Möwe oder einen Kranich, wie die Wachsvögel, die ich Sean geschenkt habe. Aber dann sehe ich ständig etwas anderes vor Augen. Ich halte inne und stelle mir die Skulptur genauer vor, die ich schaffen will.
Flügel, denke ich. Keinen ganzen Vogel, nur die Flügel. Ich nehme den Draht wieder zur Hand und mache mich an die Arbeit. Mit einigen Handgriffen ziehe ich ein paar Drahtstücke aus dem Knäuel, prüfe, wie stabil sie sind, und biege und forme daraus den Rahmen, den ich für die Flügel brauche. Ich vergesse darüber die Zeit und die Welt um mich herum. Als der Rahmen fertig ist, hole ich eine Tube Sekundenkleber aus dem Regal. Das ist zwar etwas primitiv, aber es muss ja nicht perfekt werden. Sorgfältig klebe ich die Federn an den Draht, sodass sie sich in Schichten überlappen. Nach und nach nehmen die schwarzen Flügel aus meiner Vorstellung ihre konkrete Form an. Dass die Federn so zerzaust und verschieden geformt sind, gefällt mir gut. Es passt zu einem Engel, den die Götter vom Himmel gerissen haben und der auf einem Vogel fliegen muss, bis seine gebrochenen Flügel geheilt sind.
Plötzlich höre ich ein scharfes Einatmen und meine Konzentration verfliegt. Ich hebe den Kopf und sehe Alisha. Sie steht wie erstarrt in der Tür und ist so kreideweiß im Gesicht, dass ich Angst habe, sie könnte ohnmächtig werden. Mir wird heiß.
»Entschuldigung«, sage ich hastig. »Ich weiß, ich hätte das nicht tun dürfen, ich hätte fragen müssen, aber ich kam herauf und sah die vielen Sachen, die du wegwerfen wolltest …«
Ich verstumme, weil reden mir unpassend erscheint und ich das Gefühl habe, dass Alisha mir nicht zuhört.
»Hast du das gemacht?«, fragt sie leise.
Wie ein Geist tritt sie näher, die weit aufgerissenen Augen unverwandt auf die unfertigen Flügel in meinen Händen gerichtet. Ich nicke unsicher.
Lange Zeit sagt sie nichts. Sie wirkt, als würde sie plötzlich die Welt nicht mehr verstehen. Dann sieht sie mich an, mit einem Blick, als sähe sie zum ersten Mal wirklich mich.
»Sie sehen traurig aus«, sagt sie.
»Ich weiß.« Ich streiche mit dem Finger den Kiel einer Feder entlang. »Aber sie sollen ausdrücken, dass am Schluss alles gut wird.«
Alisha nickt. »Wie findest du die Sachen?«, fragt sie zögernd.
»Die du gemacht hast?«
Sie nickt wieder. Sie hat mich dasselbe auch schon früher gefragt, aber immer beiläufig, ohne eine Antwort zu erwarten. Diesmal ist es anders. Diesmal braucht sie meine Antwort.
Ich sage, was ich wirklich denke. »Sie geben mir das Gefühl, als befände ich mich nicht länger in meinem Körper, als hätte ich keinen Körper und keine Vergangenheit. Aber trotzdem bin ich mehr ich selbst als jemals zuvor.«
Alishas Augen glänzen feucht. »Ja«, sagt sie ganz leise. »Genau das wollte ich vermitteln.«
Ich warte, denn ich spüre, dass sie noch etwas sagen will.
»Amarra hat sich dafür nicht interessiert«, sagt sie. »Das weißt du bestimmt. Sie hätte so etwas nie gemacht.
Traurig betrachtet sie meine Flügel. Die Tränen in ihren Augen laufen über. Als sie die Frage stellt, bricht ihre Stimme.
»Sie ist nicht mehr da, oder?«
Ich schüttle den Kopf. Da beginnt Alisha zu weinen und ich weiß, dass die Zeit der Selbsttäuschung für sie vorbei ist.
10. Amarras Geist
S onntags geht es in der Stadt ruhiger zu. Und Sasha ist voller Tatendrang. Nach zwei Wochen Ferien will sie mit mir einen Tagesausflug in die Stadt machen.
Die Stimmung im Haus bedrückt sie. Zwar tun Nikhil und ich unser Bestes, aber Sasha merkt trotzdem, dass ihre Mutter schrecklich leidet und ihr Vater sich seinem Kummer ergeben hat. Wenn wir alle zusammen sind, tun beide ganz normal. Sie behandeln mich wie sonst, sie necken
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