Lost on Nairne Island
Gelächter der Seemöwen war nicht zu hören. Ich öffnete den Mund und schrie, bis mir der Hals brannte.
Doch es kam kein Ton raus.
Sie sagte nichts, und sie berührte mich auch nicht. Ich wusste, dass sie da war, weil ich ihre Anwesenheit spürte. Langsam drehte ich mich um. Sie stand hinten am Heck des Bootes. Ihr langes Haar flatterte im Wind. Sie breitete die Arme aus, als würde sie erwarten, dass ich zu ihr lief in ihre Umarmung. Sie war dick eingepackt in warme Socken und eine gefütterte Jacke. Wir standen da und starrten uns eine gefühlte Ewigkeit an. Ich sagte ihren Namen, Evelyn, doch es kam kein Geräusch über meine Lippen. Dann machte ich einen Schritt auf sie zu. Sie lieà sich mit ihrem ganzen Körper nach hinten kippen und stürzte steif wie ein Brett rücklings über Bord. Ich rannte zur Reling und blickte in die Fluten. Langsam sank sie in die Tiefe, Arme und Beine von sich gestreckt. Ihr Haar verfing sich in dahintreibendem Seegras. Sie sah mir direkt in die Augen. Mir kam es so vor, als wirkte sie kein bisschen verängstigt oder gar panisch. Eher machte sie den Eindruck, als würde sie sich um mich sorgen. Sie wirkte bekümmert und traurig. Ich streckte die Hand nach ihr aus, doch sie war bereits zu tief gesunken, und als das Wasser ihre Kleidung durchdrang, sank sie schneller und schneller. Dann war sie verschwunden. Blasen blubberten an die Oberfläche, während ich weiter ins Wasser starrte. Ich war hilflos, konnte nichts tun.
Plötzlich schossen ihre Hände aus dem Wasser und packten mich an den Handgelenken. Kopfüber stürzte ich in den eisigen Ozean. Ich riss den Mund auf und sofort strömte das Wasser hinein.
Dann wachte ich auf. Nur mit Mühe konnte ich den Schrei ersticken, der sich in meiner Kehle formte. Ich richtete mich kerzengerade im Bett auf. Mein T-Shirt war schweiÃdurchtränkt und klebte mir am Körper. Am liebsten hätte ich das Licht angeknipst, doch ich hatte Angst, Evelyns klamme Hände könnten nach mir greifen, sobald ich meine Arme unter der Decke hervorzog. Oder dass sie wieder am Fenster stehen würde, sobald das Licht den Raum erhellte. Mein Atem ging flach und schnell und ich gab mir alle Mühe, mich zusammenzureiÃen. Ich hatte eigentlich noch nie Albträume gehabt. Und wenn, dann waren es so die typischen Träume, in denen man nackt eine Prüfung absolvieren muss oder so was. Die Art von Albträumen, bei denen man sofort weiÃ, dass alles in Ordnung ist, sobald man aufwacht. Doch jetzt zitterte ich immer noch und wurde das Gefühl nicht los, dass ich in Gefahr schwebte. Was sollte ich nun tun â verängstigt dasitzen und warten, bis es Morgen wurde? Wahrscheinlich war Wachbleiben auch gar keine so schlechte Idee. Ich warf einen raschen Blick auf die Uhr. Es war zwei. Noch vier Stunden bis sechs. Das war gar nicht mal so schlimm, lumpige vier Stunden. Also bitte, einmal haben Anita und ich neun Stunden lang vor einem Musikgeschäft gewartet, um Konzertkarten zu kaufen. Da hatten wir drauÃen rumgehangen, zusammen mit den ganzen Obdachlosen, und Anita war überzeugt gewesen, sie hätte bei den Mülltonnen eine Ratte gesehen. Die hatte vielleicht sogar Tollwut gehabt. Wenn ich damals neun Stunden lang ausgehalten hatte, dann konnte ich doch wohl lausige vier Stunden in meinem gemütlichen Bett überstehen, oder? Ich würde einfach hier sitzen und ausharren, bis es hell wurde. Wie jeder weiÃ, können sich Dinge, die nachts herumpoltern und spuken, zwar unter dem Bett verbergen, aber sie können sich einem nicht nähern, solange man sie nicht explizit dazu auffordert. Das ist so eine gängige Regel. AuÃerdem waren es ja jetzt bloà noch drei Stunden und achtundfünfzig Minuten, die ich hinter mich bringen musste. Die Zeit verging ja praktisch wie im Fluge. Ich versuchte mich abzulenken, indem ich das kleine Einmaleins durchging.
Ich schaffte es bis zur Drei, ehe sich mir ein neues Problem stellte, zusätzlich zu dem Gespenst, das mir möglicherweise auflauerte. Ich musste pinkeln. Drei Stunden und zweiundfünfzig Minuten. Ich versuchte es damit, dass ich die Beine überkreuzte und an eine trockene Wüste dachte. Das würde ich auf gar keinen Fall bis sechs Uhr früh aushalten. Keine Chance. Damit blieben mir zwei Möglichkeiten:
(a) Ich konnte liegen bleiben und ins Bett machen. Diese Option zog aber eine ganze Latte an
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