Lost Place Vienna (German Edition)
nichts ins Kistchen tun. So geizig, wie die ist.«
»Also Stefan?«
»Er ist unsere erste Wahl. Aber um sicher zu sein, müssen wir noch
mal an den Lost Place zurück und nach anderen Hinweisen suchen, die unsere
Vermutung bestätigen«, sagte Tom.
»Oder entkräften«, fügte Nicola hinzu, um der Objektivität der
Wissenschaft Zucker zu geben.
* * *
Eigentlich wäre der fette Sound einer Les Paul mit
Humbucker-Pick-ups geeigneter gewesen, um »Dr. Feelgood« zu rocken.
Immerhin besaß Valentina ein Distorsionpedal. Viel schlimmer war es aber, dass
sie den Verstärker nicht auf volle Lautstärke drehen konnte, sondern einen
Kopfhörer aufhatte; ansonsten wäre die gesamte Fasangasse aufrecht im Bett
gestanden, samt der Kollegen aus der Polizeistation vom Eck unten. Aber sie
liebte Mötley Crüe, und Mick Mars war einer ihrer frühen Helden gewesen. Er
spielte nicht Gitarre, er schoss mit ihr. Und Valentina ballerte ebenfalls mit
ihrer Strat den Rhythmus von den sechs Saiten.
»He’s the one they call Doctor Feelgood. He’s the one that makes you
feel all right«, sang Valentina, und es hörte sich bestimmt schrecklich an,
wenn man die Musik dazu nicht hörte.
Der Text des Liedes ließ sie innehalten. »Dr. Feelgood«,
wiederholte sie, und es klang so zynisch wie der Metal-Song selbst. Valentina
dachte an den Frauenmörder. Keiner der Köpfe hatte so etwas wie Angst gezeigt.
Die Frauen schienen sogar selig zu sein, den Tod zu empfangen. War es die
Schminke, die diesen Ausdruck suggerierte, oder fühlten sich die Frauen im
Anblick ihres Todes tatsächlich wohl? Eine perverse Vorstellung. Aber wieso
nicht? Vielleicht wollten diese Frauen sterben. Wer wollte das nicht hin und
wieder?
Valentina schüttelte energisch den Kopf. Sie wollte den Nihilismus,
zu dem sie zuweilen neigte, abschütteln. Deshalb schlug sie wieder hart in die
Saiten und spielte »Mama Told Me Not to Come« von Three Dog Night.
Das Lied ließ Valentina an das letzte Telefonat mit ihrer Mutter
denken. Fast hatte sie ein schlechtes Gewissen, dass sie nicht freundlicher zu
ihr gewesen war; um sich für ihre Undankbarkeit zu entschuldigen, stand sie
kurz davor, ihre Akustikgitarre hervorzuholen und darauf eine Tarantella zu
zupfen. Aber es wäre Blödsinn und würde niemandem dienen. Morgen jährte sich
der Todestag ihres Großvaters zum dreiundzwanzigsten Mal. Valentina würde
dieses Datum nie in ihrem Leben vergessen. Es war der Tag gewesen, an dem sich
alles änderte.
Sechs Schüsse hatte Valentina gezählt. Tatsächlich waren es mehr,
denn sie waren aus einem Maschinengewehr abgefeuert worden und ließen
Valentinas Nonno Elio Sanzillo rhythmisch zucken. Es war ein stakkatoartiger
Todestanz gewesen, fern jeglicher lebensbejahende Tarantella, bei der
Valentinas Mamma so gerne die Anführerin spielte.
Neben Nonno Elio hatte die Kugelsalve auch einen fettleibigen Mann
im weißen Unterhemd erwischt. Valentina erinnerte sich auf ewig. Sie hatte sich
erst vor dem fetten Mann geekelt, der sie herzlich an seinen Wanst gedrückt
hatte und sie »gioiello« genannt hatte. Sein
Unterhemd war so von Schweiß durchtränkt gewesen, dass man es hätte auswringen
können. Aber nachdem ihn die Kugeln des Maschinengewehrs durchlöchert hatten,
schwitzte er nur noch Blut. Wie die Landkarte einer fernen Welt hatte es seine
hellroten Flecken über das gerippte Unterhemd gemalt. Der Mann selbst hatte mit
offenem Mund zur Decke gestarrt und nie wieder »gioiello« gesagt. Seitdem fürchtete sich Valentina, wenn sie jemand so zärtlich ansprach.
Immer lauerte im Hintergrund die Angst vor der lauten, tötenden Musik der
Feuerwaffen.
Sie selbst war von Elio unter den Schreibtisch gestoßen worden. Er
hatte wohl geahnt, dass so etwas geschehen würde, als er bemerkte, wie die
Klinke der Tür sich nach unten bewegte.
Instinktiv blickte Valentina zur Wohnungstür. Hier gab es keine
Klinke. Hier musste sich erst ein Schlüssel zweimal im Schloss drehen.
Valentina ging zur Tür und versperrte sie zusätzlich mit dem Riegel, den sie hatte
anbringen lassen. Sie wollte von keiner Tür der Welt überrascht werden.
Dann schlich sie ins Bad, trank kaltes Wasser aus dem Hahn und rieb
sich die Augen. Sie drehte den Kopf, griff hinter das rechte Ohr und klappte es
nach vorne. So konnte sie nichts sehen. Sie musste die Türen des
Spiegelschrankes öffnen und sie in einem bestimmten Winkel justieren.
Die drei tätowierten Punkte in dunklem Blau erschienen. Chiffren,
deren
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