Lost Place Vienna (German Edition)
sie würden es diskret behandeln, vermutlich
eine Eliteeinheit der Bundespolizei auf sie ansetzen. Kollegen, die keine
Barette trugen, sondern unauffällig die Tauben fütterten, während sie den
falschen Tönen des Akkordeons lauschten.
Es war gefährlich, mit der U-Bahn zu fahren, zu leicht saß man in
der Falle. Aber es war der schnellste Weg, um zu Zirners Wohnung zu gelangen.
Und Zeit spielte eine wichtige Rolle. Von der Haltestation an der
Kettenbrückengasse waren es nur noch wenige Meter bis zur Stiegengasse. Dort
hatte Zirner gewohnt, im Erdgeschoss, in den Räumen eines ehemaligen
Milchladens.
Valentina klingelte bei vier Wohnungen und rief »Post« in die
Gegensprechanlage, woraufhin der Summer die Tür entriegelte. Sie durchquerte
den Hausflur und ging durch den Fahrradunterstand in den Hinterhof. Valentina
kannte das Fenster zum Hof, sie war oft genug bei Zirner gewesen. Sie hatte gehofft,
es sei wenigstens gekippt, aber es war geschlossen. Sie lauschte. Aus den
anderen Wohnungen des Mietshauses schallten Kindergeschrei und schimpfende
Mütterstimmen, dann ein lautes Radio, das wiederum mit einem noch lauteren
Fernsehapparat konkurrierte. Das Klirren des Fensterglases fiel keinem auf.
Rasch hebelte Valentina das Fenster auf und schlüpfte in die
Wohnung. Jetzt stand sie in der Besenkammer und lauschte.
Es blieb still. Vorsichtig drückte sie die Tür der Kammer auf und
schlich durch den Korridor, an der Küche vorbei in den Teil, der früher einmal
das Ladenlokal gewesen war. Die großen Schaufenster waren mit milchiger,
lichtdurchlässiger Folie beklebt, damit man vom Gehsteig aus nicht hineinsehen
konnte. Es war Zirners kleines Atelier.
Sie nahm eines der Bilder in die Hand. Es erinnerte sie an eine
Postkarte aus dem Italien der sechziger Jahre, als man begonnen hatte, »La
Dolce Vita« an die Touristen nördlich der Alpen zu verkaufen. Im Vordergrund
leuchtete eine Eisdiele, davor bogen sich bunte Sonnenschirme im Wind der
Meeresbrise, ein Pärchen spazierte im Hintergrund am Strand, und zwei Kinder
bauten in der Mitte des Bildes Sandburgen. Das Werk war noch nicht fertig. Mit
Bleistift war bereits eine dralle Italienerin an einem Obstkarren skizziert,
die Stücke einer saftigen Wassermelone an eine Gruppe Kinder verteilte. Im
Hintergrund jagten sich verspielt zwei Straßenköter.
Italien schien sie zu verfolgen. Sie legte das Bild beiseite. Sie
hatte keine Zeit, sich zu verlieren. Parizek konnte jederzeit hier aufkreuzen.
Eilig begann sie die Schubladen der Atelierschränke zu durchsuchen.
Aber sie fand nur Farben, Kreide, Kohle, Leinwände, Tapeziernägel, Handbücher
des anatomischen Zeichnens – keinen Hinweis zu ihrem Fall. Nichts, was auf
Zirners Mörder hätte hinweisen können. Was hatte sie sich auch erhofft? Etwa
einen Abschiedsbrief von Zirner, in dem er sowohl die drei Morde als auch die
Hintergründe der Tat offenlegte? So naiv war Valentina nun auch wieder nicht.
Ihr würde eine Kleinigkeit genügen. Eine winzige Notiz, unachtsam auf dem
Nachttisch abgelegt. Ein Schnipsel, an dem sie sich weiterhangeln konnte.
Etwas, was ihr belegte, auf wessen Seite Zirner gestanden war. Immerhin hatte
nur er gewusst, dass sie bei Burak gewesen war. Und Parizek war kurz darauf
dort aufgetaucht.
Ihr Blick streifte durch das Atelier. Neben einer schlechten
Fälschung von Caravaggios »Ungläubigem Thomas« hing eine Zeichnung seines Werks
»Judith und Holofernes«. Judith schnitt darauf Holofernes mit dem Schwert den
Kopf ab. Valentina erinnerte sich, dass die Dramatik des Bildes symbolisch zu
deuten war, und zwar als Sieg der Tugend über die Sünde. So hatte es ihr Don
Bernardo erklärt, als sie gemeinsam in Rom Ferien gemacht hatten und im Palazzo
Barberini vor dem Original gestanden waren.
Valentina kletterte auf einen Stuhl und nahm die Zeichnung von der
Wand. »Sieg der Tugend über die Sünde«, murmelte sie. Ob der Mörder der Frauen
sich als Wächter der Tugend betrachtete? Hatte sich Zirner etwa wegen des
Falles mit der Zeichnung beschäftigt? Valentina wusste, dass er oft übers
Zeichnen zu Assoziationen gefunden hatte.
Sie faltete die Skizze zusammen und steckte sie in die Hosentasche.
Dann verließ sie das Atelier und ging in die Küche, auf Essbares in Zirners
Kühlschrank hoffend. Geld hatte sie nämlich keins. Und irgendwie musste sie
sich in nächster Zeit durchschlagen, wie lange, war nicht abzusehen.
Zirners Kühlschrank war eine Enttäuschung. Bis auf einen
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